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Entführt ein Mann eine Minderjährige und hat mit ihr Geschlechtsverkehr, wird er in der Schweiz oder Deutschland in der Regel verurteilt, sogar wenn die junge Frau einverstanden war. Soll man den Mann jedoch auch verurteilen, wenn beide einem Kulturkreis entstammen, in der diese Art von Entführung Teil einer normalen, legitimen Praxis ist, die mit der Heirat der Beteiligten endet?  Christian Giordano hat anfangs März diesen Fall zum Ausgangspunkt seines Vortrags...

in der Reihe "Kulturelle Differenzen: Die anderen und wir." an der Uni Fribourg gemacht. Solche Fälle rufen die Anthropologin als Gerichtsexpertin auf den Plan. Sie muss versuchen, die "Normalität zu enthüllen", ohne dabei einer "Apotheose der Differenz" anheim zufallen. Die Tendenz die Differenzen zwischen Kulturen zu betonen und die Gemeinsamkeiten zu vernachlässigen, ist für Giordano ein allgemeines Problem der Anthropologie, z.B. bei der Charakterisierung der sogenannten Ehre-und-Scham Gesellschaften, wie der traditionell sizilianischen, aus der das Beispiel stammte. Im Gerichtssaal kann diese Überbetonung zu einer vorschnellen Entlastung des Angeklagten führen. Er kann auf ein strafmilderndes Ehrendelikt plädieren, das aber nur eine Tarnung für ein weitaus gemeineres Motiv ist, das nichts mit seinem kulturellen Hintergrund zu tun hat. So plädierte Giordano dafür, Individuen nicht als passive Opfer ihrer Kultur und deren Normen zu sehen, sondern als rational Handelnde, die ihren Interessen gemäss aus einem Satz an ansozialisierten Praktiken auswählen können. Damit wollte Giordano nicht sagen, dass die 'Logik der Ehre' z.B. in traditionalen, mediterranen Gesellschaften gar keine handlungsleitende Kraft habe. Er vermutete sogar, dass sie in modernen westlichen Gesellschaften ebenfalls noch wirksam sei, parallel zur ihr entgegengesetzten Errungenschaft der Aufklärung, der 'Logik der Würde', die jeder Person unabhängig von ihrem Stand, ihrer Herkunft oder Situation unantastbare, gleiche Rechte zuspricht. Die Frage, ob diese Gleichheit vor dem Recht aufgegeben werden soll, steht im Zentrum der Diskussion, mit der Giordano kürzlich Aufruhr erzeugte, nämlich der Frage ob eine parallele islamische Rechtsprechung in der Schweiz eingeführt werden sollte. Dies habe er allerdings nie konkret vorgeschlagen, sagte er in der Diskussion nach dem Referat, sondern bloss als Szenario in die Welt gesetzt. Seine pessimistische These sei jedoch, dass die Notwendigkeit eines solchen Parallelrechts immer grösser werde, je grösser die kulturelle Vielfalt in unseren Gesellschaften werde.

Diese Woche spricht in der gleichen Vortragsreihe Arno Tausch zum Thema "Asabiyya. Towards a re-interpretation of global value change". Ob der Weltsystemtheoretiker ähnlich dicht argumentieren wird wie der Anthropologe? Wer selber herausfinden will, findet hier die Infos zur Vortragsreihe.

 

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Foucault über seine eigene Forschungsarbeit:

«Es handelte sich um Forschungen, die einander sehr verwandt waren, ohne indessen ein kohärentes Ensemble zu bilden oder eine Kontinuität aufzuweisen. Es waren fragmentarische Foschungen, von denen letztlich keine vollendet wurde, ja nicht einmal Folgen hatte, zugleich zerstreute und sich ständig wiederholende Forschungsarbeiten, die in die gleichen Konzepte, die gleichen Themen, die gleichen Begriffe zurückfielen [...]. All das schleppt sich hin, geht nicht vorwärts, wiederholt sich und bidlet kein zusammenhängendes Ganzes; im Grunde sagt es beständig das Gleiche, doch sagt es vielleicht auch gar nichts aus. In zwei Worten: es ist nicht schlüssig» Michel Foucault (1977): Intervista a Michel Foucault (Gespräch mit Alessandro Fontana und Pasquale Pasquino vom Juni 1976), in: A. Fontana / P. Pasquino (Hg): Microfisica del Potere: Interventi plitici, Turin, S. 55f.