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soziologie.ch soz:mag#1 fromme unternehmer

fromme unternehmer

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Christliche Werte in der Berufspraxis von gläubigen Industriellen

Im Kontext der als Krise erlebten ökonomischen Umbrüche der 1990er Jahre - ‘Globalisierung‘, Liberalisierung, Deregulierung, Shareholder value, Privatisierung von Gewinnen und Abwälzung der ‘sozialen Kosten‘ auf die Allgemeinheit, horrende Managerhonorare und ‘Abgangsentschädigungen‘ - sind die Figur der ‘sozialen Verantwortung’ der Arbeitgeber und die Frage nach der Vereinbarkeit von wirtschaftlichem Handeln mit ethischen Maximen überaus virulent geworden. Unternehmertum ist gesellschaftlich vermehrt in Legitimationszwang geraten. In diesem Zusammenhang interessiert auch, ob ‘christliche Werte’, das heisst religiös fundierte Motive, in der Berufspraxis von Unternehmern noch eine Rolle spielen. Anhand der Auswertung von Interviews mit gläubigen Grossunternehmern wurde der Versuch unternommen, Deutungsweisen und Habitusformen eines katholischen und eines protestantischen Industriellen freizulegen. Es soll demnach zugleich eruiert werden, ob in Anknüpfung an Max Webers Protestantismus-These Unterschiede mit der ’Kulturbedeutung’ von Konfession zu erklären sind.

SOZ:MAG Beitrag von Michael Gautier

Das Ziel war es, die Integration von Religiosität in das Berufsfeld, das heisst die Präsenz und Wirkung religiös fundierter Deutungsmuster (und die Bedeutung religiöser Praktiken) von Unternehmern - ihre normative Kraft, ihre Erklärungs- und Legitimationspotenz - zu rekonstruieren. Für die Analyse am besten geeignet schienen die Diskussionsschwerpunkte: 1) Personalpolitik (sozial/materiell) und ‘Betriebskultur’ (Beziehung zur Belegschaft), 2) Reflexion und Alltagstheorien zum Unternehmersein (Rolle und Seinsberechtigung), 3) ‘Soziallehre’ (Normen, ‘Werte’), Ethik im Wirtschaftsleben (‘soziale Verantwortung’, Legitimation) und Zeitdiagnose, sowie 4) religiöse Praktiken im beruflichen Alltag. So wurden die Interviews unter den Leitfragen realisiert: Wozu leitet der Glaube an?, wie wird unternehmerisches Handeln - der Umgang mit unter ständigem Leistungsdruck stehenden Mitarbeitenden, der Konkurrenzkampf auf dem deregulierten Markt - mit christlichen Werten vereinbart?, wie beispielsweise Entlassungen (angesichts des Gebots der Nächstenliebe) gerechtfertigt, welcher Sinn dem Erfolg oder dem Scheitern zugeschrieben? - manifestiert sich darin Gottes Wille? - , ist die "Sozialpflichtigkeit des Kapitals" der direkte Ausfluss christlicher Gebote, und wie äussert sie sich?

Design und Methode

Das Datenmaterial bilden zwei nicht-standartisierte Interviews, die, fokussiert auf die erwähnten Themenbereiche, als quasi-offene Gespräche geführt wurden. Der Erhebungsprozess garantiert, dass das auszuwertende Material in einer weitgehend nicht vorstrukturierten Form vorliegt und somit einem interpretativ-rekonstruktiven Verfahren am adäquatesten ist. Die Fallrekonstruktion in Anlehnung an die von Oevermann entwickelte Objektive Hermeneutik drängt sich auf, weil es nicht bloss darum geht, die subjektiv intendierte Bedeutung der kommunizierten Wahrnehmungs- und Deutungsweisen der Welt, sondern auch den "latenten Sinn" von Äusserungen freizulegen (Oevermann 2002). Das Ziel kann nicht das Zusammenfassen einzelner Merkmale unter vorgefertigte Kategorien sein. Durch Fragebögen generierte standardisierte Daten wären unbrauchbar, weil diese primär reflektieren, was einE SozialforscherIn für denkmöglich hält. Beabsichtigt ist die Bestimmung von (in diesem Fall konfessionellen) originären Typen mittels der sequenzanalytischen Erschliessung implizit vorhandener (tradierter) Deutungswelten und Habitusformen.

Als analytisches Instrumentarium bieten sich der von Bourdieu geprägte, Handlungsautomatismen erfassende Habitusbegriff und das von Oevermann angeregte Deutungsmusterkonzept an, welches die Auslegung von Welt zum Erkenntnisobjekt hat. Beide beschreiben kollektive historisch gewachsene Phänomene, die individuelle Konfigurationen zulassen. Der Habitus ist "Spontaneität ohne Willen und Bewusstsein" (Bourdieu 1993, 97-121). "Die Konditionierungen, die mit einer bestimmten Klasse von Existenzbedingungen verknüpft sind, erzeugen die Habitusformen als Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen [...]. Als Produkt der Geschichte produziert der Habitus individuelle und kollektive Praktiken [...]; er gewährleistet die aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die sich in jedem Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen, und die Übereinstimmung und Konstantheit der Praktiken im Zeitverlauf [...]. Als einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte ist der Habitus wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat. [...] Der Habitus, der mit den Strukturen aus früheren Erfahrungen jederzeit neue Erfahrungen strukturieren kann, die diese alten Strukturen in den Grenzen ihres Selektionsvermögens beeinflussen, sorgt für eine einheitliche, von den Ersterfahrungen dominierte Aufnahme von Erfahrungen, die Mitglieder derselben Klasse statistisch miteinander gemein haben." Dagegen verkörpern die dem Bewusstsein eher zugänglichen Deutungsmuster (Oevermann 2001, 38) "krisenbewältigende Routinen, die sich in langer Bewährung eingeschliffen haben und wie implizite Theorien verselbständigt operieren, ohne dass jeweils ihre Geltung neu bedacht werden muss. Sie sind [...] aus einer Vergemeinschaftung hervorgegangene Legitimationen einer Lebensweise."

Die Kategorie der Bewährung

Zugespitzt lassen sich die im Berufsfeld wirksamen religiös begründeten Motive der Familienunternehmer Imbach (kath.) und Ludwig (prot.), welche beide die vierte Generation in der Konzernleitung vertreten und beide rund 1'100 Angestellte beschäftigen, mit kollektivistischem respektive individualistischem Bewährungsbedürfnis und -willen auf den Nenner bringen. Der Bewährungsbegriff rekurriert auf Oevermanns Strukturmodell von Religiosität (Oevermann 1995), das ihre religionssoziologisch dominante Zuordnung zur entlastenden Sinngebungsfunktion, welche ihrerseits durch die Säkularisierung in Frage gestellt wurde, überwindet, indem sie "als integrale Komponente von Lebenspraxis zur Geltung gebracht" wird. Das in der autonomen menschlichen Lebenspraxis angesichts von Endlichkeitsbewusstsein (Endlichkeit des eigenen Lebens) und Krise (Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung) freigesetzte Bewährungsproblem könne "magisch beschworen, in religiösen Erlösungsdogmen oder in säkularisierten Ethiken der Lebensführung bewältigt werden. [...] Es kann spezifisch religiös gefasst sein als Bewährung vor transzendenten Mächten, als Gehorsam gegenüber göttlichen Geboten, als Gesetzestreue oder säkularisiert als Erfolg im nicht endenden Kampf um die Souveränität der Lebensgestaltung." Das Bewährungsstreben ist demnach strukturell religiös, gleichgültig ob es inhaltlich religiös (was beide Unternehmer für sich beanspruchen) oder säkularisiert sei.

Die in den untersuchten Fällen offensichtlich differierende Bedeutung und Wirkung von Frömmigkeit in der Berufspraxis korreliert mit zwei verschiedenen Konzeptionen des Bewährungsproblems, aus denen - aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen dessen, was gottgefällig ist - notwendigerweise von einander abweichende Bewährungsstrategien hervorgehen müssen.

"Zur guten Verwaltung anvertraut" oder Charisma im Dienst individueller Bewährung

Personalpolitik und Betriebsverhältnisse

Das Unternehmen des Katholiken Imbach zeichnet sich durch eine traditionell überdurchschnittlich ausgeglichene Lohnstruktur aus; Imbach versteht Lohnpolitik als unter seiner Obhut die Solidarität in der Betriebsgemeinschaft fördernde Sozialpolitik. Dasselbe gilt für die mit ausgesprochen paternalistischem Einschlag vorgestellten grosszügigen Sozialleistungen der Firma. Das erklärte, ultimative Unternehmensziel, eine Beschäftigungsanstalt zu sein, unterstreicht, dass die Unternehmerfamilie in der Erfüllung sozialer Pflichten die Rechtfertigung ihres beruflichen Handelns sieht (also, eine Antwort auf die Bewährungsfrage zu finden glaubt). Eine Steigerung erfährt diese soziale Verbindlichkeit in der Vorstellung der Firma als erweiterte Familie, in der unter den wachsamen Augen des behütenden, immer für einen Rat guten Patrons ein über die durch einen Arbeitsvertrag definierte Funktion hinaus von Affektion geprägtes Vertrauensverhältnis unter den Betriebsangehörigen herrscht. "[W]ir haben eine schöne Beziehung zu unseren Mitarbeitern, wir beschäftigen hier neunhundertfünfzig Leute, das ist relativ viel, und trotzdem habe ich das Gefühl, es ist uns immer gelungen, eine gewisse familiäre Atmosphäre zu halten. Also das heisst, jeder Mitarbeiter, wenn er wirklich ein Anliegen oder ein Problem hat, kann er direkt zum Vater oder zu mir kommen."

Sozialpolitische Ambitionen können - ausser, dass er Massenentlassungen für einen schlechten Leistungsausweis hält - beim Protestanten Ludwig angesichts seiner anderen Gottbeziehung (und folglich einer anderen Bewährungsvorstellung) nicht denselben Stellenwert einnehmen, dafür um so mehr die fromme Gesinnung. "Ich bin früher stolz und ein wenig arrogant gewesen. Und ich bin durch meinen Glauben bescheidener geworden, und obwohl ich nicht jeden Tag durch den Betrieb gehe [...] und ich nicht alle Mitarbeiter von diesen rund sechshundert, die wir hier haben, beim Namen kenne [...]. Aber irgendwie fühlen die Leute, dass ich sie gerne habe. Dass ich einen inneren Bezug habe, auch wenn ich sie nicht jeden Tag sehe, oder jeden Monat sogar [...]. Ich fühle mich Gott gegenüber direkt verantwortlich für das, was ich hier tue, und unterstelle diesen Betrieb auch seinem Willen. Und die Leute spüren das." Die für erwiesen betrachtete gute Betriebsatmosphäre gründet nicht auf einem vergemeinschaftenden Programm. Ludwig vertraut individualistisch alleine auf sein Charisma als gläubiger, Gott unmittelbarer und verantwortlicher Christ, das sein Unternehmen segnend durchflutet.

Selbstverständnis als Unternehmer

Imbach führt eine ihm von Gott zur Mehrung des Gemeinwohls ("zur guten Verwaltung") anvertraute Fabrik. "[U]nd an und für sich kann ja jeder Mensch nichts dafür, wo er hingesetzt, -gestellt wird im Leben. Und wir haben das Gefühl, wir sind vom Herrgott hier an diese Stelle hingestellt worden und müssen, haben von ihm eine gewisse Aufgabe, oder er hat gewisse Erwartungen [...]. Und dementsprechend haben wir auch gesagt, diese Fabrik [...] gehört nicht uns, sondern wird sind hier hingestellt worden und irgend jemand erwartet von uns, dass wir unsere Aufgabe verantwortlich handhaben und lösen. [...] [W]ir sind auch nur kurz auf dieser Welt und in dieser Zeit müssen wir das möglichst Beste machen, aber wir müssen nicht für uns selber ich weiss nicht ein riesiges Vermögen schaffen oder bilden." Mit einem Auftrag an einer bestimmten Stelle in die Welt gesetzt, resultiert aus der (göttlichen) Berufung das soziale Verständnis seiner Berufspraxis (der Dienst am Nächsten), das heisst die zentrale Bedeutung seiner Rolle als Arbeitgeber. "Also für uns selber ist vom Firmenleitbild her an und für sich unser Ziel, dass wir in der ganzen Welt den Leuten mit einem Qualitätsprodukt dienen können. [...] Aber dabei an und für sich auch die Qualität von unseren Produkten zu rationalisieren, zu automatisieren, konkurrenzfähig bleiben, all das schlussendlich dient für uns einem Ziel, und das ist Arbeitsplätze hier zu schaffen. Weil uns gibt das eigentlich die grösste Befriedigung, dass wir so vielen Leuten einen Arbeitsplatz bieten können. Weil wir überzeugt sind, dass eine sinnvolle Beschäftigung für jeden Menschen etwas enorm Wichtiges für das Leben ist. Und diese Arbeitsplätze schaffen und erhalten zu können und sicherzustellen ist für uns an und für sich die Hauptmotivation, das Hauptziel."

Ludwigs Berufsverständnis ist zwar frei von ‘Sozialpflichtigkeit’, jedoch sehr wohl transzendent vertäut. Karriere und Unternehmensführung sind integraler Bestandteil seiner persönlichen Bewährungsgeschichte. Selbst das Unternehmensziel der Unabhängigkeit ist (biblisch unterfüttert) der Maxime des Gelingens durch autonome Bewährung verpflichtet.

Soziallehre und Wirtschaftsethik

"Und wir selber haben das Gefühl, der Staat muss sozial sein, muss den Leuten, die einfach in die Wiege gelegt vielleicht weniger Energie, weniger Kraft haben, müssen andere, die diese Kraft und das haben, müssen arbeiten und müssen halt auch für die anderen sich einsetzen. Aber es sollte nicht der Staat dann auch solche, die Energie und Kraft haben, noch so verwöhnen, dass sie selber mehr und mehr Initiative verlieren und mehr und mehr Verantwortung an den Staat abgeben." Zu Imbachs Entwurf einer Gesellschaftsordnung gehören mündige, selbstverantwortliche Menschen unter der Aufsicht einer paternalistischen Elite sowie die soziale Ungleichheit eine Spur glättende Solidarität in der Gemeinschaft (statt staatlich verordnetem sozialem Ausgleich), in welcher die Starken und Schwachen auf natürliche Weise koexistieren. Nicht von der Hand zu weisen ist die Passfähigkeit seines Weltbildes mit Elementen der katholischen Soziallehre (Vgl. Das Zweite Vatikanische Konzil, Bd. III, Lexikon für Theologie und Kirche, Freiburg u.a. 1968, 363-377, bes. 369-371). Der Motor menschlichen Handelns und die Quelle gesellschaftlicher - oder wohl eher gemeinschaftlicher - Wohlfahrt ist der ökonomische Konkurrenzkampf (zwischen den ‘Häusern’, jedoch nicht innerhalb derselben), der Fortschritt ermöglicht (und sich über diesen legitimiert). Die Ethisierung wirtschaftlicher Tätigkeit beschränkt sich auf den höflichen Umgang und die Arbeit an sich selber (beziehungsweise am Produkt, das den ‘Mitmenschen’ noch bessere ‘Dienste’ erweisen soll). Das bei Imbach konstitutiv mit sozialer Verantwortlichkeit aufgeladene Unternehmertum hat als Überrest der überkommenen Werkgerechtigkeitsvorstellung eine karitative Abteilung. Das institutionalisierte finanzielle Engagement lässt in Form von Almosen christlich betreute Minderprivilegierte und kirchennahe Projekte an der eigenen Wohlfahrt teilhaben.

Ludwig skizziert keine Gesellschaftsordnung; dennoch lässt sich die liberale Vorstellung vom Wettbewerb ‘frei’ agierender Individuen erahnen. Shareholder value wird als übergeordnete Losung pragmatisch verworfen, er würde nur die Leistungsbereitschaft des Personals beeinträchtigen. Der Konkurrenzkampf, in dem man - ganz im Sinn einer reformatorischen Sakralisierung der Welt -, sich bewährend, permanent seine Integrität verbürgende Autonomie erstreiten und behaupten muss, unterliegt einem göttlich gestifteten Bewegungsgesetz. Deshalb ist die Liberalisierung ein natürlicher Vorgang, in den ethisch motiviert nur eingegriffen werden kann und darf, um die Fairness der Auseinandersetzungen zu gewährleisten. "Konkurrenzkampf muss sein. Das ist gar keine Frage. Und hat mit Liebe in dem Sinn nichts zu tun." Den Geltungsbereich der Nächstenliebe reduziert Ludwig auf eine individualpsychologische Perspektive. Seine Konzeption von unternehmerischer Berufspraxis privilegiert die Existenzsicherung der Firma. Soziale Boni (wie die Schaffung neuer Arbeitsplätze) sind die auszeichnende Konsequenz erfolgreicher Geschäftstätigkeit (einer gelungenen Etappe im Bewährungskampf also) und nicht ihr Zweck. "Sie müssen Entlassungen vornehmen können in einem Betrieb, wenn die Notwendigkeit da ist, Sie müssen einfach schauen, dass die Entlassenen nicht einfach plötzlich im Regen stehen, sondern [...] soviel wie möglich tun, um für sie zu sorgen. Also, ich habe x Leute entlassen müssen."

Religiöse Praxis

Imbachs religiöse Praxis im beruflichen Alltag ist nach aussen gekehrt, rituell und vergemeinschaftend. Stiftungen an kirchliche Institutionen dienen der Jenseitsvorsorge und katholischen Mission. Der kollektive Kirchgang der Belegschaft zu Jahresbeginn aktualisiert ihre Verortung im metaphysischen Feld der göttlichen Transzendenz (was bereits die im Betrieb angebrachten Kruzifixe fördern sollen - das Bewusstsein für die hütende Allgegenwart Gottes) und vertieft und veredelt (symbolisch) maximal die Betriebsgemeinschaft; die Segnung der Fabrikanlage vertraut das Geschick der Unternehmung dem göttlichen Willen und dessen Schutz an.

So individualistisch Ludwigs Frömmigkeit ist, so oft interveniert sie, angetrieben durch die existentielle (protestantische) Ungewissheit vor der unergründlichen göttlichen Vorsehung, in seinem beruflichen Handeln. Sie bietet psychologische Hilfestellungen in der Lebensbewältigung, verleiht Selbstvertrauen und die für eine ‘Führungskraft’ elementare Fähigkeit, Verantwortung wahrzunehmen. Das Gebet ist der Moment der autonomen göttlich approbierten Entscheidfindung - "Also, ich habe in ganz schwierigen Situationen plötzlich gewusst, das muss so gehen und nicht anders" -, und Träume sind das antizipierende und versichernde Medium des göttlichen Willens. Frömmigkeit in der Geschäftsleitung begünstigt ein gutes Gedeihen des Unternehmens.

Fazit: Die latent religiösen Motive - Deutungsmuster und Habitus

Imbachs kollektivistisches Bewährungsmotiv ist auf habitueller Ebene primär als traditierter Paternalismus wirksam (Berghoff 1997, 168-174); dieser hat - mit allen betriebspsychologischen Folgen - zur Konsequenz, dass die Firma als familiale Gemeinschaft gedeutet wird. Inhaltlich religiös fundiert und soziales Verantwortungsgefühl erzeugend ist hingegen unmissverständlich seine Deutung der Welt und der gesellschaftlichen Ordnung. Wirtschaftliches Handeln dient dem Nächsten und sichert die eigene materielle Existenz. Religiöse Praktiken rahmen zeichenhaft oder in der katholischen Logik der Werkheiligkeit die berufliche Alltagspraxis, sind aber nicht in diese eingeschrieben.

Dem Protestanten Ludwig verschafft der Glaube die zur Lebensbewältigung nötige Selbstcharismatisierung und bleibt dabei ohne Folgen für Unternehmenskultur und ‘soziales Gewissen’. Viel mehr als gesellschaftlich orientiert ist sein Handeln Gott verpflichtet. Sein zutiefst protestantischer Habitus, manifest im Bewährungsdrang und in der permanenten Vergewisserung des göttlichen Zuspruchs, harmoniert mit seiner Deutung der ökonomischen Globalisierung als einer von Gott gestifteten nicht stillstellbaren Dynamik. Das Leben ist ein Bewährungsparcourt, der einsam mit göttlichem Beistand und unabdingbar unter Wahrung der Autonomie gemeistert werden muss.

Michael Gautier studiert Geschichte und Soziologie an der Universität Bern. Die Studie entstand im Rahmen des Fachprogramms "Soziologische Theorien".

Literaturauswahl

Berghoff, Hartmut, Unternehmenskultur und Herrschaftstechnik. Industrieller Paternalismus: Hohner von 1857 bis 1918, in: Geschichte und Gesellschaft 2 (1997), 167-204.

Bourdieu, Pierre, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1993.

Honegger, Claudia, Deutungsmusteranalyse reconsidered, in: Burkholz, Roland u.a. (Hrsg.), Materialität des Geistes, Weilerswist 2001, 107-136.

Oevermann, Ulrich, Die Struktur sozialer Deutungsmuster - Versuch einer Aktualisierung, in: Sozialer Sinn 1 (2001), 35-81.

Oevermann, Ulrich, Ein Modell der Struktur von Religiosität. Zugleich ein Strukturmodell von Lebenspraxis und von sozialer Zeit, in: Wohlrab-Sahr, Monika (Hrsg.), Biographie und Religion, Frankfurt a. M. u.a. 1995, 27-102.

Oevermann, Ulrich, Klinische Soziologie auf der Basis der Methodologie der objektiven Hermeneutik - Manifest der objektiv hermeneutischen Sozialforschung, Ms., März 2002 (www.ihsk.de)

Weber, Max, Die protestantische Ethik und der Geist der Kapitalismus, [1920] in: Ders., Gesammelte Aufsätze der Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1988, 17-206.

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«Die Welt ist alles, was der Fall ist.»

Ludwig Wittgenstein (1980 [1921]): Tractatus logico-philosophicus. In: Wittgenstein, Ludwig: Schriften. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 11.