Jugendliche ohne Lehrstelle und Paradoxien der Massnahme „Motivationssemester“
Alle Jahre wieder beherrscht der anhaltende Lehrstellenmangel die sommerliche Tagespresse: Ein Viertel der Jugendlichen findet nach der absolvierten neunten Klasse keinen Anschluss in eine zertifizierende Ausbildung. Eines der mittlerweile zahlreichen Brückenangebote ist das „Motivationssemester“, welches vor zehn Jahren im Rahmen der Arbeitslosenversicherung geschaffen wurde. Mittels Beratung, Beschäftigung und Bildung sollen Schulabgängerinnen und Schulabgänger auf die Anforderungen der Arbeitswelt vorbereitet werden. Doch welche Ansprüche werden in solchen Programmen an Jugendliche gestellt? Dienen sie tatsächlich der nachhaltigen Integration in die Erwerbsarbeitsgesellschaft und vermögen sie die Unsicherheiten des Übergangs zu reduzieren? Interviews mit Jugendlichen und Experten sowie die Interpretation einer Informationsbroschüre des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) ermöglichten die Rekonstruktion von Handlungslogik und Bedeutungsstrukturen. Sie bilden die Grundlage der im Folgenden formulierten Kritik am staatlichen Umgang mit Jugendarbeitslosigkeit.
SOZ-MAG Beitrag von Eva Heinimann
In der Holz- und Metallwerkstatt des Motivationssemesters Go! arbeiten etwa zehn Jugendliche. Sie stellen Produkte her, die vom Werkstattleiter vorgegeben wurden: ein Namensschild, eine Holzkiste, einen Bumerang, zum Schluss einen verstellbaren Pfannenuntersatz aus Metallstäben. Diese müssen zu gleichen Längen zugeschnitten und nach einem bestimmten Prinzip zusammengefügt werden. Im Atelier nebenan sind vor allem weibliche Jugendliche an der Arbeit. Sie stellen aus alten Gummi-Pneus Schmuckstücke her. Wenn sie eine Bewilligung erhalten, dürfen sie die Produkte am nächsten Kunstmarkt in der Stadt verkaufen. Auf den ersten Blick ist klar: Es geht hier nicht in erster Linie um zielgerichtetes Arbeiten, sondern ums Arbeiten an und für sich. „Die Jugendlichen lernen hier, was in der Lehre wichtig ist: Pünktlichkeit, Sauberkeit, Ordnung“, meint der Werkstattleiter. Die Vermittlung klassischer Arbeitstugenden nimmt an den drei Beschäftigungstagen im Motivationssemester einen grossen Stellenwert ein. An den übrigen Tagen werden die arbeitslosen Schulabgängerinnen und Schulabgänger bei der Lehrstellensuche unterstützt und erhalten Unterricht in den Fächern Deutsch, Mathematik sowie Allgemein- und Persönlichkeitsbildung. Wer unentschuldigt fehlt oder mehrmals zu spät kommt, muss mit einer Kürzung des Arbeitslosen-Taggelds rechnen.
Was wird von Jugendlichen während eines Motivationssemesters erwartet? Das formulierte Ziel dieser arbeitsmarktlichen Massnahme besteht darin, die arbeitslosen Schulabgängerinnen und Schulabgänger beruflich zu integrieren und damit eine nachhaltige gesellschaftliche Integration zu erreichen. Eine kritische Auseinandersetzung mit den institutionellen Strukturen und der spezifischen Handlungslogik der Motivationssemester verdeutlicht jedoch, dass diese Zielsetzung mit Widersprüchen verbunden ist. Gerade im Kontext der staatlichen Aktivierungspolitik muss davon ausgegangen werden, dass individuelle Risiken des Scheiterns und des Ausschlusses durch institutionelle Anforderungen noch erhöht werden können.
Von der Notlösung zum Brückenangebot
Bereits eine erste Auseinandersetzung mit den Motivationssemestern lässt die Frage aufkommen, weshalb sich eine Arbeitslosenversicherung um Anliegen der Berufsbildung kümmern muss. Eigentlich ist sie doch darauf ausgerichtet, ehemals Erwerbstätige wieder in den Arbeitsprozess zu integrieren. Im Gegensatz zu anderen öffentlichen Brückenangeboten wie das 10. Schuljahr oder die sogenannten Vorlehren sind Motivationssemester nicht dem Berufsbildungssystem angegliedert. Ihre Entstehung ist vielmehr im Kontext des explodierenden Lehrstellenmangels Mitte der Neunziger Jahre zu verorten. Innerhalb von drei Jahren, zwischen 1990 und 1993, stieg die Zahl der 15- bis 24-jährigen Erwerbslosen von 5‘000 auf 40‘000 an. Gleichzeitig bauten viele Betriebe unter den Bedingungen von Flexibilisierung und Rationalisierung Lehrstellen sukzessive ab. Gemäss Simon Zysset, dem Deutschschweizer Koordinator der Massnahme, ist das erste „Projekt“ aus der damaligen Notsituation sehr spontan und unbürokratisch entstanden. Der Handlungsbedarf war evident. Der Staat, namentlich das verantwortliche Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), stand unter öffentlichem Druck, quasi über Nacht entschärfende Lösungen zu präsentieren. Im gleichen Zeitraum verabschiedete die Bundesversammlung ein 60-Millionen-Programm, bekannt unter dem Namen „Lehrstellenbeschluss 1“, welches die Grundsteine für den Ausbau überbrückender Massnahmen legen sollte.
Aus dem einstigen Pionierprojekt sind mittlerweile über 60 weitere – in der Ausgestaltung äusserst heterogene – Motivationssemester entstanden. Getragen werden sie in den meisten Fällen von privaten Vereinen oder Organisationen des Non-Profit-Bereichs. Grundlage bilden die jeweiligen Leistungsvereinbarungen mit den zuständigen kantonalen Arbeitsämtern. Der Besuch eines so genannten „Semos“ dauert in der Regel sechs Monate, während denen die Jugendlichen ein minimales Taggeld von derzeit noch 450 Franken erhalten. Wer mindestens ein Jahr lang gejobbt hat, erhält reguläre Taggeld-Leistungen in der Höhe der einbezahlten Beiträge. Die mit der Auszahlung solcher Taggelder verbundenen Anreiz-Wirkungen sind derzeit Gegenstand heftiger politischer Auseinandersetzungen. Das Seco hat kürzlich den Vorschlag eingebracht, die Taggelder für Teilnehmende der Motivationssemester aufgrund „falscher Anreize“ und „Konkurrenzieren anderer Brückenangebote“ zu halbieren. Die mit Jugendlichen des Motivationssemesters Go! geführten biografischen Interviews weisen darauf hin, dass die Frage der Taggelder und deren Wirkungen tatsächlich einer kritischen Auseinandersetzung bedürfen. Sie sind aber nur Teil einer Palette von Paradoxien, welche die institutionelle Logik der Massnahme charakterisieren.
Erziehung zu Arbeitstugenden als Erfolgsrezept
Marc sucht eine Lehrstelle als Bauzeichner. Seit einem halben Jahr ist er bereits im Go! Er ärgert sich immer wieder darüber, dass er weniger Taggelder erhält als die anderen „Dumpfbacken“, aber doch eigentlich mehr Bewerbungen schreibe. Da er nach der Schule zehn Monate gejobbt hat, erfüllt er die Bedingungen für den Bezug der 450 Franken Taggelder plus Spesen in der Höhe weiterer 400 Franken nicht. Nun erhält er stattdessen bloss 500 Franken vom Sozialamt. Seine Erfahrungen mit sozialen Institutionen – seine allein erziehende Mutter ist IV-Bezügerin – haben ihn misstrauisch gemacht. Aus seiner Sicht unterliegt er nun auch im Motivationssemester einem willkürlichen System von Geldzu- und -abflüssen. Marc ist unmotiviert und gibt sich keine Mühe, den Anforderungen der Massnahme gerecht zu werden. Der Unterricht sei „ehrlich gesagt extrem langweilig“ und wenn er bis Ende Monat nichts finde, werde er halt in eine weitere Massnahme „verfrachtet.”
Der Fall von Marc zeigt auf, dass der persönliche Umgang mit Misserfolgen und Frustrationen nicht ganz einfach ist. Wie der Name der Massnahme schon verrät, wird der „Motivation“ denn auch einen zentralen Stellenwert zugeschrieben. Hermeneutisch ausgelegt kommt dem Begriff „Motivationssemester“ jedoch eine stigmatisierende Bedeutung zu. Es wird suggeriert, dass die Notwendigkeit einer Teilnahme an dieser Massnahme mit der im Ausgangszustand ungenügenden Motivation der Jugendlichen zu tun hat. Erst mit der Wiederherstellung eines motivierten Zustandes wird gleichzeitig ein Erfolg am Arbeitsmarkt in Aussicht gestellt. Die hier anskizzierte Deutung des Begriffs Motivationssemester weist darauf hin, dass die Verantwortlichen der Massnahme, namentlich das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), den Lehrstellenmangel nicht in erster Linie als strukturelles Problem verstehen. Vielmehr sind es die Betroffenen selbst, welche mangels persönlicher Qualitäten für ihre Situation verantwortlich gemacht werden. Der Schwerpunkt der Massnahme, die Erziehung zu Arbeitstugenden in internen Ateliers und Werkstätten, verdeutlicht diese Haltung ganz konkret. Das „Trainieren“ von Eigenschaften wie Fleiss, Leistungswille und Pünktlichkeit soll dahin wirken, einen jungen Schulabgänger in eine taugliche Arbeitskraft zu verwandeln. Dass dabei das ursprüngliche Ziel der Motivationsförderung vergessen geht, kommt am Beispiel von Marc untrüglich zur Geltung: Gerade institutionelle Zwänge und Strukturen können dazu beitragen, bereits vorhandene Frustrationen noch zu verstärken und die Lernbereitschaft endgültig auszuhöhlen.
Hauptsache eine Lehrstelle
Die aus Italien stammende Sara absolvierte nach der obligatorischen Schulzeit zunächst ein zehntes Schuljahr, danach mehrere Schnuppereinsätze und ein zehnmonatiges Praktikum in einem Spital. Immer noch ohne Lehrstelle meldete sie sich schliesslich beim RAV an und trat kurz darauf ins Motivationssemester Go! ein. Ihren ursprünglichen Berufswunsch Krankenschwester hat sie in der Zwischenzeit aufgegeben. Sie verfolgt nun zwei neue Berufsziele: Dentalassistentin und Kleinkindererzieherin. Ihren bisherigen Misserfolg bei der Ausbildungssuche kann sie sich nicht erklären, sie bezeichnet sich als gute Realschülerin und schätzt den Umgang mit anderen Menschen sehr. Das Spital habe ihr ein sehr gutes Arbeitszeugnis ausgestellt. „Obwohl es jetzt wirklich das Letzte wäre“ könnte sie sich mittlerweile auch vorstellen, bloss die einjährige Ausbildung zur Pflegeassistentin zu absolvieren: „Es ist immerhin ein Diplom, das man hat, oder...“
Wie die Bildungsforschung herausgefunden hat, stellen weniger die schulischen Leistungen als vielmehr das Geschlecht, die soziale Herkunft und der auf Sekundarstufe 1 besuchte Schultyp statistisch signifikante Einflussfaktoren für den Erfolg am Lehrstellenmarkt dar. Auch andere Studien weisen auf verdeckte Diskriminierungen des Bildungssystems hin. Es zeigt sich, dass insbesondere Frauen und Jugendliche ausländischer Herkunft ihre beruflichen Ansprüche massiv zurückschrauben müssen. So genannte „cooling-out“ Prozesse – ein Begriff, der übrigens von Erving Goffman geprägt wurde – beruhen meistens darauf, dass Misserfolge mit eigenen Defiziten begründet werden. Abgekühlte Aspirationen ermöglichen den Jugendlichen zwar die Aufrechterhaltung eines Handlungsspielraums, können aber gleichzeitig einen Motivationsverlust bewirken oder einen solchen noch verstärken. Im Falle von Sara stellt sich also die Frage der Nachhaltigkeit eines Bildungsweges, der unter dem Motto „Hauptsache eine Lehrstelle“ eingeschlagen wurde. Resultiert daraus nicht eher ein sekundär motiviertes Ausbildungsinteresse, welches weniger dem Inhalt als dem zu erlangenden Zertifikat gilt? Eine kürzlich publizierte Studie der Erziehungsdirektion des Kantons Bern hat ergeben, dass mehr als ein Fünftel aller neu abgeschlossenen Lehrverträge vorzeitig aufgelöst werden. Ein mangelndes Interesse am gewählten Lehrberuf wird dabei als einer der vielfältigen Gründe genannt.
Aufgrund des Drucks einer möglichst raschen Arbeitsmarktintegration wird von den Jugendlichen im Motivationssemester eine hohe Flexibilität in Bezug auf die Berufswahl abverlangt. Diese Forderung steht im Widerspruch mit eigenen Ansprüchen und Bedürfnissen, die nicht zuletzt Produkte gesellschaftlicher Entwicklungen sind. Gerade Werte wie Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung nehmen in einer individualisierten, demokratisch geprägten Gesellschaft eine zentrale Bedeutung ein. Auch die aktivierende Arbeitsmarktpolitik bedient sich in ihren Konzepten der modischen Begriffe der Selbst- und Sozialkompetenzen. Diese gilt es im Motivationssemester zusätzlich zu fördern, etwa im Fach „Persönlichkeitsbildung.” Denn ein guter Lehrling weiss, was er will. Er ist initiativ, selbständig und motiviert. Unter den Anforderungen von Flexibilität muss aber gerade der Begriff der „Selbstkompetenz“ als Fähigkeit verstanden werden, die eigenen Ansprüche mit den Anforderungen des Arbeitsmarktes kompatibel zu machen. Die Wahrnehmung von Selbstverantwortung kann dabei ebenso untergraben werden wie das Bedürfnis, Spass an der Arbeit zu haben oder eigene Fähigkeiten und Stärken zu entwickeln.
Massnahmenkarrieren und Ausgrenzungsrisiken
Vanessa fühlt sich wohl im Motivationssemester und schätzt den freundschaftlichen Kontakt mit Jugendlichen in der gleichen Situation. Sie ist froh über die Betreuung, denn „zuhause würde ich mich niemals hinsetzen und so viele Bewerbungen schreiben.“ Seit dem Tod ihrer Mutter wohnt sie mit der ebenfalls arbeitslosen Schwester allein zuhause. Zum Vater hat sie ein zerrüttetes Verhältnis; er arbeitet meistens Nachtschicht in einer Fabrik. Nach ihrem ursprünglichen Berufswunsch Coiffeuse möchte Vanessa nun Verkäuferin werden. Die Lehrstellensuche und die vielen Absagen erlebt sie als äusserst frustrierend: „Sie wollen mich einfach nicht!“ Falls sie im nächsten Monat nicht einmal einen Praktikumsplatz findet, wird sie das Motivationssemester ohne Anschlusslösung verlassen müssen. Ihr RAV-Berater hat ihr den Besuch eines vom RAV organisierten Verkaufskurses empfohlen, um ihre Lehrstellenchancen zu verbessern. Danach könnte sie sich vorstellen, einen Job zu suchen oder noch lieber: wieder ins Go! zurückzukehren.
Soziale Ressourcen – dazu gehören Familie, Freunde und andere informelle Netzwerke – sind sowohl für Prozesse der Berufswahl und der Lehrstellensuche wie auch für die Bewältigung von Misserfolgen zentral. Vanessas Beispiel zeigt auf, dass das Motivationssemester diesbezüglich einen temporären Ersatz darstellen kann. Die Einbindung in eine feste Tagesstruktur soll helfen, den oftmals orientierungslosen Teilnehmenden eine stabile Grundlage zu gewähren. Gerade aus der Perspektive der Jugendlichen wird deutlich, dass weniger die Beschäftigungsinhalte der Massnahme als vielmehr das Vorhandensein einer „Anlaufstelle“ mit Kontaktmöglichkeiten von Bedeutung sind. Umso tragischer ist es für Jugendliche wie Vanessa, wenn Sie das Motivationssemester erfolglos wieder verlassen müssen. In ihrem Fall bahnt sich eine Massnahmenkarriere an, die schliesslich in ein prekäres Arbeitsverhältnis im unqualifizierten „Jedermannsarbeitsmarkt“ münden könnte. Auch hier leisten die Motivationssemester aufgrund ihrer widersprüchlichen Handlungslogik ihren Beitrag. Das Ziel einer langfristigen Integration in den qualifizierten Arbeitsmarkt wird durch den Druck einer möglichst schnellen Weitervermittlung aufgeweicht. Zugunsten der Verwertbarkeit zukünftiger Arbeitskräfte geraten individuelle biografische Aspekte und Problemlagen aus dem Blickfeld.
Erfolgreiche Übergänge in die Berufsbildung?
Nach wie vor wird die Integration in den Arbeitsmarkt als wesentliche Voraussetzung für gesellschaftliche Integration erachtet. Aufgrund struktureller Veränderungen, namentlich der Flexibilisierung und Rationalisierung der Arbeitswelt, wird diese Integrationsfunktion zunehmend in Frage gestellt. Die gesellschaftliche Krisenlage manifestiert sich besonders deutlich an den Übergängen. Um die Problematik mangelnder Lehrstellen zu entschärfen, werden überbrückende Angebote geschaffen, in welchen aber letztlich die Spannungen noch deutlicher sichtbar werden. Paradoxe Effekte prägen daher auch die vom Seco initiierte Massnahme Motivationssemester. Mittels Arbeit an persönlichkeitsbezogenen Merkmalen und Selbstvermarktungstechniken streben diese in erster Linie eine arbeitsmarktbezogene Aktivierung an. Die zugrunde liegende institutionelle Logik orientiert sich dabei stark an der Norm des „unternehmerischen Selbst.”
Geschlossene Gesellschaften
„Wer in Zürich Einfluss hat, begegnet sich immer wieder. Es ist schon so, dass sich alle kennen“, gibt Peter Forstmoser, Swiss-Re-Präsident und Universitätsprofessor, unumwunden zu. Neben Verwandtschaften und engeren Freundschaften (sog. „Strong Ties“), die vor allem in den reichen Familien(dynastien) noch immer einen wichtigen Teil des sozialen Kapitals ausmachen, sind Mitgliedschaften in Wirtschafts- und Service-Clubs (Rotary, Enterpreneur’s Roundtable, Swiss American Chamber u.a.), gemeinsame Einsitze in Verwaltungsräten, Alumni-Verbindungen und exklusive Sportclubs („Weak Ties“) bei modernen Unternehmern und Managern von grosser Wichtigkeit. Eine weitere Bedeutung zur Anhäufung und Kultivierung des Sozialkapitals haben die zum Teil sehr exklusiven Veranstaltungen wie Opernbälle, Galas, Vernissagen von Kunstausstellungen, Theaterpremieren oder andere mondäne Veranstaltungen, wie zum Beispiel das Polo-Turnier oder das White Turf in St. Moritz. Auch die gemeinsame Ausübung von Sport, z.B. Segeln, Golf oder Reiten, hat oft den praktischen Nebeneffekt der Pflege von wichtigen Bekanntschaften.
Diese begünstigt die Individualisierung struktureller Problemlagen und stigmatisiert von Arbeitslosigkeit betroffene Jugendliche als nicht beschäftigungsfähig. Die Anbieter von Motivationssemestern befinden sich im Dilemma, einerseits den sozialen Problemlagen vieler Teilnehmender gerecht zu werden, andererseits die Leistungsvereinbarungen mit den zuständigen Arbeitsämtern einzuhalten. Aus dieser Zwangslage heraus erweist sich das „Prinzip des Unterbringens“ als zentrale Handlungslogik. Die damit einhergehende Flexibilitätsforderung steht jedoch den propagierten Werten der Selbstverwirklichung und Selbstverantwortung diametral entgegen. Die an Motivationssemestern teilnehmenden Jugendlichen gehen mit diesen Widersprüchen unterschiedlich um: Sie passen sich an, verbleiben in einem Zustand der Desorientierung oder verhalten sich bewusst nicht kooperativ. Gerade die beiden letztgenannten Verhaltensmuster bergen das Risiko der Ausgrenzung. Dies zeigt sich in Form von Massnahmenkarrieren, Massnahmenabbrüchen oder der definitiven Verabschiedung aus dem Bildungssystem.
Die Motivationssemester sind als „Notlösung“ im Rahmen des Arbeitslosenversicherungssystems entstanden. Der Aktivierungspolitik verpflichtet, sind sie weder im Bereich der Qualifizierung noch in der Beratung auf professionelles Know-how abgestützt. Angesichts der thematisierten Defizite stellt sich die politische Frage, ob die Millionenbeträge der Finanzierung dieser Programme nicht eher in den Aufbau zertifizierender, wenn nötig staatlich getragener Basisausbildungen gesteckt werden sollten – umso mehr, als fiktive Beschäftigungssituationen eine demotivierende Wirkung entfalten können. Wozu einen Pfannenuntersatz herstellen, wenn er weder gebraucht noch verkauft wird? Und weshalb sollte sich jemand in der Werkstatt anstrengen, wenn er oder sie ja eigentlich lieber Koch oder Coiffeuse werden will? Jugendliche ohne qualifizierende Anschlusslösungen sind zweifellos auf institutionelle Hilfestellungen angewiesen; nicht zuletzt aber auch darauf, dass ihre Persönlichkeit, ihre Fähigkeiten und Bildungsansprüche ernst genommen werden. Sie brauchen nicht organisierte Wartebänke, sondern professionelle Angebote, die in erster Linie über den nötigen Handlungs- und Beratungsspielraum verfügen.
Eva Heinimann studierte in Bern Soziologie und Volkswirtschaft. Der vorliegende Artikel basiert auf ihrer Lizentiatsarbeit: „Auf der Wartebank. Jugendliche im Motivationssemester.“ Die Arbeit ist vor kurzem in der Reihe „Neue Berner Beiträge zur Soziologie“ erschienen und kann online bestellt werden: www.soz.unibe. ch/nbbs/
Literaturauswahl:
BBT/Seco (2005): Jugendarbeitslosigkeit in der Schweiz. Erklärungen und Massnahmen zu deren Bekämpfung. Eidgenössisches Volkswirtschaftsdepartement.
BFS (2003): Bildungsmonitoring Schweiz. Wege in die nachobligatorische Ausbildung. Die ersten zwei Jahre nach Austritt aus der obligatorischen Schule. Zwischenergebnisse des Jugendlängsschnitts TREE. Neuchâtel.
Haeberlin, U., Imdorf, Chr. und Kronig, W. (2004): Von der Schule in die Berufslehre. Untersuchungen zur Benachteiligung von ausländischen und von weiblichen Jugendlichen bei der Lehrstellensuche. Bern.
Nadai, E. (2006): Der kategorische Imperativ der Arbeit. Vom Armenhaus zur aktivierenden Sozialpolitik. In: Widerspruch 49: Prekäre Arbeitsgesellschaft.
Stalder, B. und Schmid, E. (2006): Lehrvertragsauflösungen, ihre Ursachen und Konsequenzen. Ergebnisse aus dem Projekt LEVA. Erziehungsdirektion des Kantons Bern.
Stauber, B. und Walther, A. (1999): Institutionelle Risiken sozialer Ausgrenzung im deutschen Übergangssystem. Nationaler Bericht für das thematische Netzwerk „Institutionelle Risiken im Übergang (‚Misleading Trajectories’).” Programm sozioökonomische Schwerpunktforschung, IRIS e. V.
Walther, A. (2000): Spielräume im Übergang in die Arbeit. Junge Erwachsene im Wandel der Arbeitsgesellschaft in Deutschland, Italien und Grossbritannien. Weinheim und München.
Weber, M. (1988/1904): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: Ders: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Tübingen.
< Zurück | Nächste > |
---|