Rekonstruktion der politischen Denkweise in der Albisgüetlirede 2000 von Christoph Blocher
Keine andere Partei hat in den letzten Jahren - und spätestens seit der Ablehnung des Vertrages über die Mitgliedschaft im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) im Jahre 1992 - so viel Aufmerksamkeit sowohl von wissenschaftlicher als auch von journalistischer Seite erhalten wie die Schweizerische Volkspartei (SVP). Ihr Aufstieg von einer relativ kleinen, v.a. im bäuerlichen Milieu beheimateten Partei zu einer professionell geführten, einflussreichen Volkspartei geht ein in die Erzählung der "Erfolgsstory" der SVP (Hartmann). Sie verdankt diesen Erfolg wesentlich einem Mann, der mit seiner medialen Wirksamkeit und in seiner Emblematik alle anderen Politiker und Politikerinnen der Schweiz in den Schatten stellt: Christoph Blocher. Im vorliegenden Artikel sollen die konstitutiven Elemente der liberal-konservativen Denkweise dargestellt werden, wie sie sich in Blochers Albisgüetlirede 2000 niederschlagen.
SOZ-MAG Beitrag von Lukas Zollinger
Es mag den Anschein machen, dass eine weitere Arbeit zur Denkweise dieses aussergewöhnlichen Politikers einer Fingerübung gleichkommt, die lediglich dazu verurteilt ist, bereits Gesagtes zu wiederholen. Noch dazu, wenn sein Denken über die viel besprochenen Albisgüetlireden erschlossen werden soll. Indes: Neuere Untersuchungen zu den politischen Parteien der Schweiz lassen eine befriedigende Auseinandersetzung mit den programmatischen Ausrichtungen bzw. den "politischen Orientierungen" vermissen. Oftmals vermögen sie weder die Sinngehalte einer politischen Orientierung in ihrer historischen Bezugnahme darzustellen, noch deren Affinität zu sozialen Milieus und politischen Traditionen zu fassen. Dieser Artikel versucht die Ergebnisse einer umfangreichen Arbeit zusammenzufassen und muss folglich vornehmlich aus Auslassungen bestehen. Der verfolgte Ansatz ist von der Wissenssoziologie Mannheims geprägt und wurde mit Hilfe der Methode der "objektiven Hermeneutik" empirisch angegangen. Nach Mannheim ist jede Denkweise historisch, generationenspezifisch geprägt und von einem sozialen Standort milieuspezifisch konstituiert. So wurde Blochers sozialräumliche und sozialmoralische Herkunft rekonstruiert und in Beziehung gesetzt zu der sich in der Albisgüetlirede 2000 niederschlagenden Denkweise. Die Darstellung dieser "soziologisch-genetischen" Analyse kann in diesem Artikel nicht erfolgen. Vielmehr sollen zentrale Elemente, die den liberal-konservativen Denkstil ausmachen, dargestellt und, wo notwendig, in einen schweizspezifischen, weltanschaulichen Traditionsbezug gesetzt werden.
Der letzte Republikaner
Seit 1989, dem zehnjährigen Nationalratsjubiläum Blochers, findet alljährlich die sogenannte "politische Standortbestimmung" der Zürcher SVP im "Schützenhaus Albisgüetli" statt. Bereits die symbolische Inszenierung in einem kleinen Landgut, das als Schützenhaus diente und dient, bedarf der eingehenderen Deutung im Lichte der Symbolgeschichte der Bundesstaatsgründung. Das kleine Landgut, das "Güetli", reiht sich ein in eine romantisierte Darstellung schweizerischer Eigenart, hervorgegangen aus der Wahlverwandtschaft von deutscher Romantik, Helvetik und der Bundesstaatsgründung im Jahre 1848. Darin erscheint der Schweizer "als Einheitsmensch bäuerlichen Zuschnitts, den Gletschern und Alpenflora innigst verbunden und jederzeit anfällig für ein pathologisches Heimweh" (Von Matt). Die schweizerische Eigenart war also ständisch-agrarisch und nicht-industrialisiert. Diese nationalen Deutungsvorgaben wurden zu Zeiten der "geistigen Landesverteidigung" vor dem Zweiten Weltkrieg aktualisiert und bewahren bis heute ihre Deutungsmacht in den agrarisch geprägten und durch den Versorgungskrieg gestärkten Milieus, zu welchen Christoph Blocher, aufgrund der sozialräumlichen Herkunft, seiner landwirtschaftlichen Ausbildung und zeitweisen Tätigkeit als Bauer, gehörte. So ist die Schweiz in ihrem Selbstverständnis - und das zeigt auch die zeitweise hitzig geführte Debatte um die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg - die Schweiz während jener Zeit.
Die Schützen und ihre Feste waren - neben den historischen Festspielen, den Landesausstellungen und seit 1891 dem 1. August als Nationalfeiertag - beim "Konstruktionsprozess historischer Bilder" (Hettling) des Nationalstaates in Kollektivritualen von hervorragender Bedeutung. Sie schlugen sich auch im "Fähnlein der sieben Aufrechten" von Gottfried Keller literarisch nieder. Im Zuge der freisinnigen Nationalstaatsbewegung des frühen 19. Jahrhunderts initiiert, gaben die Schützenfeste Gelegenheit, das Bild des wehrhaften Schweizer Mannes eindrücklich darzustellen. Organisiert wurden diese (eidgenössischen) Feste von den Sängern, Schützen und Turnern, wobei erklärtes Ziel war, möglichst viele Bürger zu einer Art symbolischen Lands- gemeinde zu versammeln. Im Schiessen wurde jeder Teilnehmer für einen Moment zu einem in den Männerbund integrierten Mitglied, das sich in seiner Einzigartigkeit und kämpferischen Wehrhaftigkeit, seiner Männlichkeit und seinem "Schweizersinn" darstellt. Als literarische Bezugsperson diente von früh an Willhelm Tell: der erste und fähigste Schütze in der vitalen, parareligiösen Mythologie der Schweiz. In personifizierter Symbolik stellt er das lediglich auf Abwehr von Grossmachtinteressen ausgerichtete Verteidigungsdispositiv dar. An den Schützenfesten fanden sich Bilder und Vorstellungen vom Soldaten, Bürger und Schweizer zu einem historisch und national überformten Männlichkeitsbild zusammen. Ihre Absicht war es, "innere Einheit bei äusserer Vielartigkeit und Zerspaltung" (Jacob Burckhardt) symbolisch darzustellen.
Für die politische Vergemeinschaftung im Rahmen der untersuchten Rede konstitutiv sind folgende vier zentrale Deutungsangebote:
Erstens, die Darstellung der Einheit, verstanden als emotionale Bindung untereinander zwischen "ganzen Menschen". Traf man bei den Schützenfesten als Gruppe ein, verliess man sie im Zusammenschluss zur Nationalgemeinschaft. "Untereinander als Brüder, mit den alten Helden als Familie verbunden, konstituierte man sich auf den Schützenfesten als männerbündische Einheit." (Hettling) Rituelle Praktiken dienten dabei der Integration und Bindung: Fahnenkult, Schiessverfahren, Preisübergabe, Festreden, Festzüge. "Der einzelne trat in den wehrhaften Bund der Männer und in die Gemeinschaft mit den Vorfahren ein." (ebd.)
Zweitens, die dargestellte und empfundene Gleichheit in Bezug auf soziale Rangunterschiede und Konfessionalität, Regionalismen, indem man als Schütze im sportlichen Wettkampf miteinander konkurrierte und untereinander als Schweizer gleich war.
Drittens war man sich gleich und einig auf der Grundlage der Freiheit. Im Schiessstand löste man sich von allen gesellschaftlichen Verpflichtungen. "Nur im Akt des Schiessens ist der einzelne völlig frei - das Schiessen verkörpert die individuelle 'Tat', die Wilhelm Tell bei Schiller für sich reklamierte." (ebd.)
Schliesslich war die Treue untereinander rhetorisch bedeutsam, die sich im Bruderbund symbolisiert und in der Begrüssung per Hand, im vertrauten "Du" und ähnlichen Alltagszeichen äusserte. Man berief sich auf die bereits lange bestehende Tradition der Feste als schweizerische Institution, als deren Objektivierung die einzelnen daraus entstandenen Zeichen dienten (z.B. die Schweizer Fahne mit weissem Kreuz auf rotem Grund). Wie eng Geist, Gesinnung und Wehrwille in der republikanischen Weltanschauung miteinander verknüpft waren und sind, wird deutlich, wenn wir eine ins schweizerische Selbstverständnis eingegangene und bis heute populäre Formulierung Gottfried Kellers aus der Novelle "Das Fähnlein der sieben Aufrechten" näher betrachten. Keller lässt eingangs den Schneidermeister Hedinger seine Vorstellung von der idealen Gesellschaftsordnung formulieren: " [...] keine Regierung und keine Bataillone vermögen Recht und Freiheit zu schützen, wo der Bürger nicht imstande ist, selber vor die Haustüre zu treten und nachzusehen, was es gibt." Sowohl die politische Vertretung des Souveräns durch eine Regierung als auch das staatliche Gewaltmonopol, welches zur Aufgabe hat die innere und äussere Sicherheit zu gewährleisten, bedürfen beständiger Kontrolle durch den einzelnen Bürger, der als Milizsoldat notfalls auch mit der eigenen Waffe seine Freiheit verteidigt. Die Miliz ist die Leitfigur des Republikaners - er kann die Landesverteidigung unmöglich einer Gruppe von Berufssoldaten überlassen, wie es der Liberale idealtypisch tun würde. Für den Republikaner ist es unvorstellbar, die Landesverteidigung als nur eine von vielen Funktionen in einer differenzierten Gesellschaft zu betrachten. In seinen Augen gehört der Wehrdienst ebenso zu den zentralen Bürgerpflichten zugunsten des Gemeinwohls wie die politische Partizipation als Zoon politikon, als aktiver Bürger. Aus dieser Ableitung von politischer Partizipation und Staatsbürgertum aus dem Wehrdienst - im Sinne von "one person, one vote, one gun" - mögen sich auch die Probleme gewisser Schweizer Parteien gegenüber der Einführung des Frauenstimmrechts erklären lassen.
Allein aufgrund der Wahl des Veranstaltungsortes und der zentralen Stellung, welche dieser für die politische "Bewegung" der Zürcher SVP einnimmt - so wird die Albisgüetlitagung selbst in der untersuchten Rede als eines der Erfolgsgeheimnisse erwähnt - kann zusammenfassend festgehalten werden: Die hier untersuchte Partei und ihr Präsident stellen sich als männerbündlerische, eid-genössische Einheit dar, die in kämpferischer Wehrhaftigkeit miteinander treu verbunden sind. Im gemeinsamen Kampf sind alle Mitglieder der "Schützenvereinsbewegung" gleich. Standes-, Weltanschauungs- und Konfessionsunterschiede treten hinter den Kampf für die Freiheit zurück. Galt der frühliberale Kampf der Freiheit vom Ancien Régime, so gilt der Kampf der SVP Zürich der Freiheit vom allmächtigen nationalen und supranationalen Staat und von den Sozialisten. Zu den Sozialisten zählt die SVP (Zürich) vorab die Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SPS), aber auch - aufgrund des Zusammenschlusses in der "Koalition der Vernunft" gegen die SVP (Zürich) - die beiden übrigen Bundesratsparteien. So wird Blochers Argumentation deutlich: Mit der Betonung, eine "Volkspartei" ohne Partikularinteressen zu sein, wird es für die SVP (Zürich) möglich, sich als alleinige Vertreterin des gesamten Schweizer Volkes auszugeben. In diesem Sinne vertritt sie eine antipluralistische Politikkonzeption.
Der Kopf und die Glieder
Präsident der Zürcher Sektion dieser in ihrer Symbolik an die frühliberalen Bewegungen anschliessenden Volkspartei ist Christoph Blocher. In seiner Darstellung ist er Zielscheibe nicht nur der Mitglieder der "Koalition der Vernunft", sondern auch einem steten Kampf gegen ein "Heer von Journalisten" ausgesetzt, die "uns" (d.h. die "Bewegung", L.Z.) erbittert bekämpften, verunglimpften und verleumdeten." Die Angriffe, so Blocher weiter, gelten v.a. ihm und dies als logische Konsequenz:
"Die Partei muss geköpft werden, denn ohne Kopf lebt nicht einmal eine Partei. Trotzdem stehe ich heute vor Ihnen - bin munter und fröhlich!"
In dieser Passage seiner Albisgüetlirede stellt sich Blocher nicht als Parteipräsident dar, sondern als Führer, als "Kopf". Die Partei ist ein organischer Körper, funktional aufgeteilt in verschiedene Teilbereiche, wobei die kognitive Zentrale dem Parteipräsidenten zukommt. Sollte er, der mit dem Körper verwachsen ist, gestürzt werden, würde die ganze Partei handlungsunfähig werden und absterben. Die Darstellung erinnert an den von Adorno in der Untersuchung der Rundfunkreden Martin Luther Thomas' rekonstruierten rhetorischen "Typen" des "Einsamen-Wolf-Tricks": Der Führer stellt sich in seinem politischen Kampf als einsam und in seiner Bewährung heroisch dar. Als einsam betrachtet er sich, weil er suggeriert, dass seine politischen Gegner - im Gegensatz zu ihm - über Presse und Rundfunk verfügen. In diesem widrigen Kampf zeichnet sich der Führer durch Mut und Furchtlosigkeit aus und versichert seine Bereitschaft, sich selbst aufzuopfern. Der Parteipräsident hat alle bisherigen Angriffe überlebt und präsentiert sich seiner Gefolgschaft kindlich vital mit einer Spur Wagemut ("munter und fröhlich").
Die anthropomorphe Vorstellung von der (Bewegungs-) Partei verweist in ihrer hierarchischen Ordnung auf die Partei als "Miliz", wie sie Blocher im Jahre 1979 bei seinem Amtsantritt als Zürcher Parteipräsident definierte: Er befand, dass man von der "Meinungsbildung von unten nach oben", also von den basisdemokratischen Mitbestimmungsrechten der Parteimitglieder, genug geschwatzt habe und verglich die Partei mit einer "Miliz", bei der die klare Marschrichtung den "Parteisoldaten" vorgegeben und nicht von ihnen diskutiert werden sollte. (Hartmann / Horvath (1995): 45) Den Parteipräsidenten einer schweizerischen Volkspartei, welche die Werte der (Basis-)Demokratie und Milizpolitik hochhält zum Führer empor zu stilisieren, ist jedoch äusserst riskant. Der Charismatiker Blocher befindet sich in einem genuinen Handlungsproblem des demokratisch gewählten, repräsentativen Politikers: Zum einen muss er sich als aussergewöhnlich begabte und von der Masse sich unterscheidende Person (Führer) darstellen, zum anderen darf er seine Volksverbundenheit und -zugehörigkeit nicht verlieren. Diese Gratwanderung gelingt Blocher auf verblüffend einfache Weise. Die zuvor zitierte Passage lautet weiter:
"Die Partei muss geköpft werden, denn ohne Kopf lebt nicht einmal eine Partei. Trotzdem stehe ich heute vor Ihnen - bin munter und fröhlich! Warum? Weil wir nach dem Motto leben [:]"
Stellt sich der Redner zunächst als Kopf und Führer der Partei dar, der wagemutig den verschiedenen Angriffen des "Heeres von Journalisten" trotzt, folgt der verallgemeinernde Satz ("Weil wir nach dem Motto leben"), der sogleich die charismatisierende Bewährung auf die Parteimitglieder und die weitere Gefolgschaft überträgt und dadurch vergemeinschaftend wirkt. In unzähligen anderen Passagen wiederholt sich dieses Muster. Zunächst wird in der ersten Person Singular die persönliche Bewährungsproblematik eingeführt, um sie später in der ersten Person Plural, dem "Wir" der Gemeinschaft, aufzulösen. Blocher muss also die Figur des "grossen kleinen Mannes" (Adorno) wählen, um seine Glaubwürdigkeit als Zugehöriger und zugleich hervorragender Vertreter des Volkes zu gewährleisten. Adorno umschreibt das Spannungsverhältnis der Selbstdarstellung folgendermassen (Adorno 1995: 375):
"Als Verkörperung der psychologischen "Integration" seines Publikums zu einer Totalität ist der Redner schwach und stark zugleich, schwach: insofern jeder Einzelne aus der Menge erachtet wird, mit dem Führer sich zu identifizieren, der ihm darum nicht allzu überlegen sein darf; stark: insofern er das machtvolle Kollektiv repräsentiert, das durch die Einigung der Angesprochenen zustande gekommen ist. Die Imago, die er von sich aufbaut, ist die des grossen kleinen Mannes mit einer Spur Inkognito dessen, der unerkannt auf denselben Wegen schreitet wie die anderen, der aber am Ende als der Retter sich offenbaren soll."
Der Geheimnisträger
Titel der untersuchten Albisgüetlirede aus dem Jahre 2000 lautet "Die sieben Geheimnisse der SVP". Neben der Tatsache, dass der Redner sich selbst als Kopf einer Bewegung darstellt, eine Bewegung, die von der Assoziation mit Dynamik und Spontaneität lebt und im Gegensatz steht zu einer Partei, verfügt der Charismatiker Einsicht in "Geheimnisse", die sich allmählich als Erfolgsgeheimnisse herausstellen. Das Geheimnis stellt nach Simmel eine spezifische Wissensform dar, welche die Exklusivität von Wissen anspricht und eine Spannung zwischen Eingeweihten und Ausgeschlossenen erzeugt. Werden die von einem geheimen Wissen Ausgeschlossenen auf dessen Existenz angesprochen, wird ihnen unterstellt, dass sie potentiell ein Interesse an dessen Aufdeckung haben. Das Geheimnis stellt ein "bewusst gewolltes Verbergen" dar und wirkt auf die Entstehung und den Erhalt von Sozialbeziehungen. Als Form betont das geheime Wissen seine Exklusivität und steigert dadurch das Überlegenheitsgefühl des Geheimnisträgers im Verhältnis zu den Ausgeschlossenen. Die Statussteigerung durch die Preisgabe führt dazu, dass der Geheimnisträger sich gezwungen sieht, mindestens die Existenz eines Geheimnisses preiszugeben. Das "Ich-weiss-etwas-das-du-nicht-weißt" dient nach Simmel als formales Mittel zur Herabstufung des Nichteingeweihten und zur Steigerung der Bedeutsamkeit des Geheimnisträgers, erhöht aber auch die Gefahr, das Geheimnis lüften zu müssen. Gleichzeitig - gleichsam auf der Gegenseite der Unterscheidung von eingeweiht und ausgeschlossen - wird die Neugier des Ausgeschlossenen geweckt. Die Neugier erwächst aus der typischen Irrung, dass alles Geheimnisvolle etwas Wesentliches und Bedeutsames sei. "Der Idealisierungstrieb und die natürliche Furchtsamkeit des Menschen wirken dem Unbekannten gegenüber zu dem gleichen Ziele, es durch die Phantasie zu steigern und ihm einen Aufmerksamkeitston zuzuwenden, den die offenbarte Wirklichkeit meistens nicht gewonnen hätte." (Simmel 1993: 319) Formal gehört zu dieser Attraktion des Geheimnisses sein logischer Gegensatz: der Verrat des Geheimnisses. "Das Geheimnis enthält eine Spannung, die im Augenblick der Offenbarung ihre Lösung findet. Dieser bildet die Peripetie in der Entwicklung des Geheimnisses, in ihm sammeln und gipfeln sich noch einmal dessen ganze Reize [...]." (ebd.) Das Überlegenheitsgefühl des Geheimnisträgers entsteht gerade durch die Möglichkeit, exklusives Wissen preiszugeben und damit in das Leben anderer eingreifen zu können. Mit der Zugänglichkeit zu einem Geheimnis verliert dieses aber seine Spannung, und die anziehende und statussteigernde Wirkung der Exklusivität wird zerstört. Ein Geheimnis und mit ihm dessen Träger befindet sich folglich in einem dem Geheimnis innewohnenden Spannungsverhältnis zwischen dem statussteigernden Reiz des Exklusiven und der Macht der Offenbarung. Idealerweise, um die Macht über andere auf Dauer zu stellen, gilt es den Idealisierungstrieb anzusprechen und die Phantasie, die den tatsächlichen Gehalt des Geheimnisses überragt, zu animieren. Restlose Offenbarung der Geheimnisse wäre für die Gefolgschaftssicherung einer politischen Bewegung also kontraproduktiv: es gilt, den "Aufmerksamkeitston" beizubehalten. Tatsächlich hält Blocher diese Taktik raffiniert ein. Nachdem er die Rede gehalten und die Geheimnisse offenbart hat, ja sogar nach der namentlichen Begrüssung der Gäste, spricht er:
"Sie sehen, die politischen Themen gehen uns nicht aus. Die sieben wichtigsten politischen Geheimnisse der SVP habe ich Ihnen nun verraten. Es handelt sich allerdings nur um jene Geheimnisse, die als "streng vertraulich" klassifiziert sind."
"All jene Parteigeheimnisse, die "streng geheim" sind, kann und darf ich Ihnen selbstverständlich nicht verraten, denn sie bilden die Strategie für die Zukunft. Über die Strategie spricht man nicht, man setzt sie um. Sollten sich die "streng geheimen" Geheimnisse in den nächsten zwanzig Jahren aber als ebenso erfolgreich erweisen wie die "streng vertraulichen", werde ich diese anlässlich der Albisgüetli-Rede des Jahres 2020 ebenfalls preisgeben." (Blocher 2000: 22)
Der Redner zeigt sich in der Handhabung der Exklusivitätswahrung und der Selbstcharismatisierung äusserst geschickt. Nachdem er mit grosser Geste die sieben "wichtigsten" Geheimnisse der Partei gelüftet hat, eröffnet er einen weiteren Projektionsraum mit weiteren, "streng geheimen" Geheimnissen. Durch Beibehaltung des "Aufmerksamkeitstones" bindet er seine Gefolgschaft für einen Planungszeitraum von weiteren zwanzig Jahren, für einen Zeitraum zumindest, der Sicherheit und Stabilität verspricht. Danach befindet sich die "Bewegungspartei" gerade in der Mitte der Entwicklung, die mit der Präsidentschaft Blochers begonnen hat und die unter seiner autokratischen Aufsicht weitergeführt werden soll.
Das Urbild der Familie
Nach Darstellung weniger exemplarischer Elemente der Albisgüetlirede 2000 von Christoph Blocher lässt sich abschliessend sagen, dass es sich bei der SVP (Zürich) nicht um eine Partikularinteressen folgende Partei handelt. Diese wirken "staatszersetzend" und handeln durch ihre Institutionalisierung bürokratisch-routiniert. Die SVP (Zürich) ist vielmehr eine sich in dauerhafter Bewährungskrise befindliche Bewegung, die an die frühliberale Bewegung der Schützenvereine anschliesst. Sie repräsentiert die militärische und politische Miliz der verantwortungsvollen Bürger in der politischen Öffentlichkeit und geht von einem republikanischen Staatsverständnis aus. Da die SVP keine Partikularinteressen zu vertreten vorgibt und sich als politische Bewegung versteht, vertritt sie in antipartikularistischer und -pluralistischer Denkweise das Schweizer Volk als organisches Ganzes, dem ein einheitlicher Wille unterstellt wird. Die Bewegung SVP mit ihrem Führer vertritt die Interessen des gesamten Schweizer Volkes und ist dadurch gleichbedeutend mit der SVP Schweiz. Damit verfolgt Blocher einen "Einheits-Trick" (Adorno): "Etwas äusserst Begrenztes und Partikularistisches", wie es jede politische Denkweise mit ihrem je spezifischen "Standort des Denkens" darstellt, wird "als das Ganze, die Gemeinschaft" etabliert.
Der Redner, Präsident der SVP Zürich und Nationalrat Christoph Blocher, präsentiert sich als charismatischer Geheimnisträger und autokratischer Kopf der Bewegung, der dem genuin demokratischen Handlungsproblem untersteht, sowohl ausserordentlich begabt sein zu müssen, als auch nicht allzu überlegen sein zu dürfen, insofern er das machtvolle Kollektiv repräsentiert.
Die anthropomorphe und organologische Kopf-Glieder-Vorstellung der Parteistruktur erinnert an eine politisch-romantische Denkweise. Diese zeichnet sich durch ein Bild des Gemeinwesens aus, das als Abbild des menschlichen Körpers oder als "lebendiges Wesen im Grossen" (Schrenck-Notzing) gedacht wird. Schliesslich wird die autokratische Beziehung im Verhältnis von Parteiführung und Gefolgschaft auf nationalstaatlicher Ebene ergänzt durch die Darstellung Blochers als paternalistischen Landesvater.
Dieser Paternalismus verweist auf Mannheims Aussage, dass allen konservativen Vorstellungen von "organischen Kollektivverbänden" das Urbild der Familie zugrunde liegt. So präsentiert sich die Schweiz als eine leicht zerrüttete Familie mit einer streitbaren "classe politique" als Mutter und dem wehrhaften und aufrechten Christoph Blocher als Vater. Bei den Kindern handelt es sich wohl um das mit der Heimat und den "alten Helden" verbundene Volk, das immer wieder der strengen aber gerechten Aufsicht des Vaters bedarf.
Lukas Zollinger studiert Soziologie und Rechtswissenschaften an der Universität Bern und ist Hilfsassistent am Lehrstuhl "Allgemeine Soziologie" von Prof. Claudia Honegger. Die dargestellte Untersuchung entstand im Rahmen des Fachprogramms "Soziologische Theorien".
Literaturauswahl
Adorno, Theodor W. (1995 [1950]): Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Hartmann, Hans / Horvath Franz (1995): Zivilgesellschaft von rechts. Die Erfolgsstory der Zürcher SVP, Zürich: Realotopia.
Hettling, Manfred / Nolte, Paul (1993): "Bürgerliche Feste als symbolische Politik im 19. Jahrhundert", in: (ebdie.): Bürgerliche Feste, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, S. 7-36.
Hettling, Manfred (1998): "Die Fähnlein der Treffsicheren. Die eidgenössischen Schützenfeste im 19. und 20. Jahrhundert", in: Blattmann, Lynn / Meier, Irène (Hrsg.): Männerbund und Bundesstaat. Über die politische Kultur der Schweiz, Zürich: Orell Füssli Verlag.
Keller, Gottfried: Das Fähnlein der sieben Aufrechten, Zürich: Gebrüder Fretz AG. Mannheim, Karl (1984): Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Matt, Peter Von (2001): Die tintenblauen Eidgenossen. Über die literarische und politische Schweiz, München/Wien: Carl Hanser Verlag.
Schrenck-Notzing, Caspar von (1996): Lexikon des Konservatismus, Graz/Stuttgart: Stocker. Simmel, Georg (1993): "Das Geheimnis. Eine sozialpsychologische Skizze", in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Band II, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 317-323.
Neu erschienen: Gsteiger, Fredy (2002): Blocher. Ein unschweizerisches Phänomen, Basel: Opinio Verlag.
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