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soziologie.ch soz:mag#2 stadt und delinquenz

stadt und delinquenz

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Theoretische und empirische Beiträge der frühen Chicago School of Sociology

Seit den 1960er Jahren nehmen die Kriminalitätsraten in Europa stetig zu, jedoch nicht räumlich gleichmässig verteilt, sondern vorwiegend in den Städten. Diese Tatsache hat denn auch in den Sozialwissenschaften zu einem verstärkten Interesse an urbaner Delinquenz geführt. Wie lässt sich delinquentes Verhalten in Städten theoretisch begründen und empirisch erforschen? Weshalb gibt es Stadtteile, die über viele Jahre hinweg konstant hohe Kriminalitätsraten aufweisen, und andere nicht? Wie kommt es dazu, dass Jugendliche und Erwachsene delinquent werden und wie interpretieren sie selbst ihre Handlungen? Diese heute wieder aktuellen Fragen stellten sich einige Soziologinnen und Soziologen an der Universität Chicago bereits vor achtzig Jahren.

SOZ-MAG Beitrag von Karin Gasser

Wer sich mit den Arbeiten der Chicago School of Sociology auseinandersetzen will, kommt nicht darum herum, die Stadt Chicago und ihre soziale und wirtschaftliche Entwicklung eingehender zu betrachten. In jener Stadt sei anfangs des 20. Jahrhunderts die Stadtsoziologie entstanden und Chicago quasi deren erster Untersuchungsgegenstand gewesen, so der Tenor vieler heutiger Stadtsoziologinnen und -soziologen. Und gleichsam mit den Anfängen der Stadtsoziologie einher gehend wurde auch das unternommen, was Thema dieses Artikels ist: die Delinquenzforschung. Aber weshalb gerade Chicago? Was war an dieser Stadt so besonders, dass sie Nährboden für eine ausserordentlich innovative und tüchtige soziologische Schule bot? Chicago hatte in den 1920er Jahren ein enormes Wachstum hinter sich: Umfasste die Stadt 1840 noch 4'500 Einwohner, so waren es 1870 bereits 300'000, zur Jahrhundertwende 1'700'000 und 1920 annähernd drei Millionen. Die Gründe für diese rasche Bevölkerungszunahme lagen in der Entwicklung der Stadt zum kommerziellen Zentrum des Mittleren Westens. Die landwirtschaftsnahe Industrie expandierte und die Stadt wurde zur Basis für den Bau der Eisenbahn nach Westen. Das schnelle Wachstum der Industrie zog Tausende von Immigranten aus aller Welt an, vor allem jedoch aus den europäischen Ländern. Um die Jahrhundertwende waren ungefähr die Hälfte der Stadtbewohner im Ausland geboren.
Nicht alle profitierten damals gleichermassen vom rasanten Wirtschaftswachstum; die Mittelklasse wurde schnell reicher, aber die Unterschicht konnte sich nichts von dem leisten, was sie mit eigenen Händen produzierte. Die Zeit war geprägt von Spannungen und sozialen Problemen, und als Reaktion darauf entstanden verschiedene soziale Bewegungen und wohltätige Institutionen. Eine in diesem Zusammenhang wichtige soziale Kraft war die reformerische Bewegung, auch bekannt als "progressive movement". Ihr gehörten viele AkademikerInnen und Angehörige der wirtschaftlichen Elite an und sie spielte bei der künftigen Entwicklung der Sozialwissenschaften in Chicago eine massgebende Rolle. 1892 öffnete dank der grosszügigen finanziellen Starthilfe des Besitzers von Standard Oil, John Rockefeller, die University of Chicago, und mit ihr das Department of Sociology and Anthropology, ihre Pforten. Die Erwartungen der wirtschaftlichen Elite an die neue Universität waren hoch: So wie sie selbst die immer komplexer werdende Wirtschaft managte, sollten die Forschenden an der Hochschule Lösungen für die gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart erarbeiten, um die für die prosperierende Wirtschaft notwendige soziale Stabilität wieder herzustellen. Diese geistige Grundhaltung, die sowohl die Natürlichkeit sozialer Probleme als auch deren professionell gemanagte Lösung akzeptierte, markierte die Geburtsstunde des amerikanischen Liberalismus.

Soziale Desorganisation und erlernte Kriminalität

In das vorherrschende liberale Denken reihten sich in der Folge auch die Soziologinnen und Soziologen an der neu gegründeten Universität ein. Sie fassten die negativen Konsequenzen des raschen gesellschaftlichen Wandels - die sozialen Spannungen - als natürliche Reaktion der Betroffenen auf und nicht als unzufriedene, aufständische Reaktion der strukturell Unterprivilegierten. Damit trugen sie zur Entpolitisierung der sozialen Probleme bei und entschärften die rassische Deutung der "urban problems". Ihre Perspektive auf die Stadt und die Gesellschaft wird auch "Sozialökologie" genannt, da sie auf die Wechselwirkungen verschiedener Kräfte fokussiert und Analogien zwischen Prozessen in der Natur und in der Gesellschaft nicht scheut. Derartige Analogien zogen später viel Kritik auf sich, die aber im Gegenzug oft mit dem Argument entschärft wurde, die Chicagoer Theorien seien zu biologistisch interpretiert worden und ursprünglich eigentlich gar nicht so gemeint gewesen. Wie dem auch sei, in delinquenztheoretischer Hinsicht waren die Chicagoer Ansätze alles andere als biologisch, gehörten sie doch zu den ersten, die delinquentes Verhalten nicht aufgrund internaler, genetischer Faktoren zu erklären versuchten, sondern anhand sozialer Faktoren.
Die erste, ab 1920 in Chicago entwickelte Delinquenztheorie, wird "Theorie der sozialen Desorganisation" genannt. Sie wurde von Thomas und Znaniecki in ihrem umfangreichen Werk "The Polish Peasant" erstmals beschrieben und später von Robert E. Park in "The City" weiterentwickelt. Die Theorie besagt vereinfacht, dass soziale Desorganisation, definiert als Abschwächung der Einflussnahme sozialer Regeln und Normen auf die Individuen einer Gruppe, zu Unsicherheit führe und - als Reaktion darauf - zu abweichendem Verhalten der Individuen. Eine solche Unsicherheit machten Thomas und Znaniecki bei den polnischen Einwanderern in Chicago aus, deren althergebrachte Normen im neuen Umfeld nicht mehr funktionierten, die aber noch zu wenig Zeit hatten, sich den Regeln der amerikanischen Gesellschaft anzupassen. Eine Gesellschaft, die einen solch rapiden sozialen Wandel erfahre wie damals die Stadt Chicago, falle aus ihrem natürlichen Gleichgewicht und müsse sich reorganisieren. Park übernahm die Ideen seiner beiden Vorgänger, brachte die soziale Desorganisation aber stärker mit der Stadt als soziologischem Gebilde in Verbindung. Soziale Desorganisation sei vorwiegend ein urbanes Phänomen, da in der Stadt viele Individuen nicht durch Geburt Teil des gesellschaftlichen Organismus würden, sondern durch Zuwanderung. Kulturelle Assimilation würde dadurch länger dauern und soziale Desorganisation sei in einer derartigen Situation nicht pathologisch, sondern normal.
Die zweite Delinquenztheorie, die in Chicago in jener Zeit entstand, ist die "Theorie differentieller Kontakte". Sie wurde ab Ende der Zwanziger Jahre von Edwin H. Sutherland erarbeitet, allerdings erst in den Dreissiger Jahren veröffentlicht. Sutherland sah nicht in der Gesellschaft als Ganzes die Ursache abweichenden Verhaltens, sondern in den kollektiven Handlungen ihrer Mitglieder. Delinquentes Verhalten werde durch assoziative Verknüpfung in einem Kommunikationsprozess mit Personen erlernt, die solches Verhalten praktizieren. Es handle sich dabei um einen ganz normalen Lernvorgang, was bedeutet, dass kriminelles Verhalten erlernbar ist und abhängig davon, ob jemand Kontakte zu anderen Kriminellen eingeht oder nicht. Daraus folgt, dass Delinquenz nicht grundsätzlich ein Phänomen der unteren, sozial desorganisierten Schichten ist, sondern es durchaus auch sogenannte "white collar criminality" geben kann und gibt - womit Sutherland hauptsächlich die damals nicht vom Kernstrafrecht erfasste Wirtschaftskriminalität bezeichnete. In diesem Punkt unterschied er sich radikal von den Ansichten seiner Kollegen.

"Get the feeling..."

Die wissenschaftliche Stärke der Chicagoer Soziologen lag nicht in der abstrakten Theoriebildung, auch wenn die obigen Ausführungen diesen Eindruck vermitteln mögen. In den meisten der Chicagoer Studien sind theoretische Überlegungen nur implizit vorhanden. Die Arbeit der Chicagoer Forscher besticht vielmehr durch die ihr eigene innovative Art der Durchführung konkreter empirischer Untersuchungen. Mit grosser Neugier und Beharrlichkeit erforschten die Sozialwissenschaftler Einwandererghettos, Spielhöllen und Bordelle - die Stadt stellte für sie eine Art soziales Labor dar. Der direkte Kontakt mit den Betroffenen, die Analyse von Menschen und Institutionen in ihrer natürlichen Umwelt war ihnen wichtig. Delinquenten wurden nicht mehr länger nur dann befragt, wenn sie hinter Gitter waren, sondern wenn möglich eben auch in ihrem natürlichen Umfeld beobachtet und interviewt. In ihrer Arbeit mit den Studierenden betonten die Chicagoer Soziologen stets die Bedeutung eigener Datenerhebungen - Park ermunterte seine Schülerinnen und Schüler jeweils: "...go get the seat of your pants dirty in real research" oder "get the feeling..." (Park, zit. nach Bulmer 1984). Methodisch gingen sie sowohl quantitativ als auch qualitativ vor. Der quantitative Teil umfasste meist kartographische Arbeiten, anhand derer beispielsweise untersucht werden konnte, in welchen Stadtteilen die Kriminalitätsraten am höchsten waren, oder die Analyse von Volkszählungsdaten. Die qualitativen Methoden, die für den Grossteil der Forschungsarbeiten angewandt wurden, umfassten teilnehmende Beobachtung, Dokumentenanalyse sowie Interviews. In der Delinquenzforschung wurden anhand biographischer Interviews und weiterer biographischer Dokumente oft detaillierte Fallstudien erarbeitet, mit dem Ziel, die Jugendlichen und Erwachsenen in ihren eigenen Worten sprechen zu lassen und somit ein vertieftes Verständnis ihrer kriminellen Handlungen zu entwickeln.
Gemeinsam ist all den Studien, dass sie mit ungeheurem Aufwand erarbeitet wurden. So erhob Thrasher in seiner Studie "The Gang" über sieben Jahre hinweg eine Fülle an Daten zu 1313 Gangs und ihren Mitgliedern und zu "Gangland", ihrem sozialökologischen Umfeld. Er führte Hunderte von Gesprächen mit ehemaligen und aktuellen Gangmitgliedern, mit Jugendarbeitern, Beamten und weiteren Betroffenen, verbrachte viel Zeit mit teilnehmender Beobachtung in den Gangs selber und analysierte Liedtexte und Slangausdrücke. Gangs entstehen laut Thrasher aufgrund sozialer Desorganisation in gewissen Stadtteilen und entwickeln sich oft aus einer spontanen Spielgruppe heraus. Wenn sie während ihrer Entwicklung nicht in irgendeiner Form in das gemeinschaftliche Leben im Quartier eingebunden werden, werden viele von ihnen später delinquent und oft sogar Handlanger des organisierten Verbrechens. Sutherland setzte sich in seiner Studie "The Professional Thief" zwar hauptsächlich mit einer einzigen Person auseinander, ging dabei aber nicht weniger aufwendig vor. Er liess einen professionellen Dieb, der über zwanzig Jahre lang dieser Beschäftigung nachgegangen war, seinen Beruf aus eigener Sicht beschreiben und diskutierte und ergänzte das Geschriebene danach während Monaten gemeinsam mit ihm. In einem letzten Schritt legte er das Dokument vier weiteren professionellen Dieben und zwei Detektiven vor und diskutierte es mit zahlreichen Betroffenen. Die so zustande gekommenen Ergänzungen und Kritikpunkte fügte er als Fussnoten in den Bericht ein. Sutherlands zentrale Erkenntnis aus der Studie ist, dass Diebstahl - abgesehen von seiner Illegalität - ein Beruf sei wie jeder andere, und dass dieser Beruf nur erlernt werden kann, wenn man von anderen professionellen Dieben angeleitet und schliesslich als Berufskollege akzeptiert wird.

Zukunftsweisend oder antiquiert?

Die Chicagoer Studien sind sowohl inhaltlich als auch methodisch eindrücklich und verdienen zweifellos eine nähere Betrachtung. Doch inwiefern strahlen sie über ihre Zeit hinweg Bedeutung aus? Ein Blick auf heutige Studien zur urbanen Delinquenz zeigt, dass nach wie vor mit ähnlichen theoretischen Konzepten an die Thematik herangegangen wird. Die Theorie der sozialen Desorganisation wird in verfeinerter Form auch heute noch herbeigezogen und auch Lerntheorien und situationale Erklärungen im Sinne Sutherlands sind immer noch von Bedeutung. Allerdings wird sowohl aus stadtsoziologischer als auch aus kriminalsoziologischer Sicht an den Chicagoer Ansätzen Kritik geübt. Der fundamentalste der zahlreichen Kritikpunkte richtet sich gegen die liberale Interpretation gesellschaftlichen Wandels. Die Chicagoer Soziologen hätten mitunter geholfen, den Mythos der "natürlichen" Entwicklung heraufzubeschwören - alles, was in Wahrheit ein Produkt der Geschichte, ein soziales Konstrukt oder Ausdruck von Machtverhältnissen sei, wurde als natürlich beschrieben. Dieser Kritik muss grundsätzlich recht gegeben werden, aber sie darf nicht das überragen, was meiner Meinung nach die zentrale Leistung der Chicagoer Delinquenzforschung darstellt und auch heute noch Vorbildcharakter haben könnte: Die methodische Innovation, die damals an den Tag gelegt wurde, verbunden mit dem Wunsch, delinquentes Verhalten bis ins letzte Detail zu verstehen, ohne es zwangsläufig verurteilen zu müssen. Heutige Forschungsarbeiten zur Thematik der urbanen Delinquenz lassen solche Bestrebungen meist vermissen, da einseitig quantitative Methoden dominieren. Ein Methodenmix, der vertiefte Erkenntnisse ermöglichen würde, wird leider allzu oft gescheut.

Karin Gasser studiert Soziologie an der Universität Bern. Im Rahmen ihrer Fachprogrammarbeit im Bereich "sozialer Wandel" befasste sie sich mit den theoretischen und empirischen Beiträgen der frühen Chicago School of Sociology zur Thematik "Stadt und Delinquenz".

Literaturauswahl

Bulmer, Martin (1984): The Chicago School of Sociology. Institutionalization, Diversity, and the Rise of Sociological Research. Chicago [etc.]: University of Chicago Press
Chapoulie, Jean-Michel (2001): La Tradition Sociologique de Chicago 1892-1961. Paris: Seuil
Sutherland, Edwin H. (1937): The Professional Thief. Chicago: University of Chicago Press
Thrasher, Frederic M. (1927): The Gang. A study of 1313 Gangs in Chicago. Chicago: University of Chicago Press

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«The study of Sociology is the study of evolution in its most complex form»

Herbert Spencer (1891) in: The Study of Sociology, p.385