Hürdenlauf für das Management
Immer mehr Unternehmen führen im Rahmen ihrer Personalarbeit sogenannte Assessment Center durch. In diesen mehrtägigen Klausuren werden mehrere Kandidatinnen und Kandidaten gleichzeitig von mehreren Beobachtenden in verschiedenen Übungen beurteilt. In Anlehnung an Michel Foucault und Nikolas Rose beschreibt unser Artikel den spezifischen Umgang des Menschen mit sich selbst, den das Assessment Center zugleich fordert wie ermöglicht, und verweist auf die damit verbundenen politischen Konzepte und Ideologien.
SOZ-MAG Beitrag von Gaudenz Steinlin und Markus Studer
Assessment Center
"An der Vorinformation hat man mir gesagt, sie werden dann ins kalte Wasser geworfen. Und ich habe mich auch so vorbereitet und habe gedacht: O.k., gut, ich springe nun ins kalte Wasser. Splitternackt ausgezogen, hineingesprungen, drinnen gewesen, kalt, oder. Dann sehe ich, die hinter mir, die springen gar nicht rein. Die strecken vielleicht einen Finger oder einen Fuss rein. Ich habe dann während dem gesamten Assessment das Gefühl gehabt: ich probiere irgendwie wieder aus dem kalten Wasser zu kommen." So beschreibt Andrea Marti ihren Einstieg ins Assessment Center. In diesem "härtesten aller Personalauswahlverfahren", werden die Kandidatinnen und Kandidaten während ein bis drei Tagen in verschiedenen Übungen auf Herz und Nieren geprüft. Für viele unter ihnen wird diese Prüfung zu einer einschlägigen Erfahrung, so auch für Andrea Marti. Eigentlich hatte sie sich das Assessment Center etwas anders vorgestellt: "Sie haben uns erklärt, es gehe nicht um Selektion, sondern das Ziel des Assessment Centers sei die 'Prüfung der Personalführungskompetenz'. Eigentlich war ich interessiert, zu wissen, wie mein Führungspotential bewertet wird. Ich habe mir das als wertfreie Einschätzung vorgestellt." Auch in der Fachliteratur werden Assessment Center als Alternative zu traditionellen Bewerbungs- oder Personalbeurteilungsverfahren angepriesen, die eigentlich nur Vorteile für alle Beteiligten bringt. So schreibt der Unternehmensberater Christof Obermann: "Insgesamt gehen aufgrund der hohen Transparenz des AC's, der Möglichkeit zur Selbsterfahrung und Horizonterweiterung sowie insbesondere aufgrund des Rückmeldegesprächs auch abgelehnte Bewerber zufriedener nach Hause als bei klassischen Bewerbergesprächen."
Wir haben uns in unserer Fachprogrammsarbeit aus einer soziologischen Perspektive mit dem Assessment Center befasst. Dazu haben wir uns intensiv mit der einschlägigen Fachliteratur auseinandergesetzt und Interviews mit der Teilnehmerin Andrea Marti und dem Arbeits- und Organisationspsychologen Roger Schneider geführt, der selbst solche Assessment Center organisiert. Wir haben uns die Frage gestellt, welche Veränderungen das Assessment Center in der Personalarbeit bewirkt. Was bedeutet es für die betroffenen Personen? Was wird von ihnen verlangt?
Inzwischen werden Assessment Center in den meisten grösseren Unternehmungen der Schweiz eingesetzt. In der Personalarbeit dienen sie dabei verschiedensten Zielsetzungen. Gewöhnlich werden sie sowohl zur Selektion zwischen Stellenbewerberinnen wie auch zur Identifikation besonders für Führungspositionen geeigneter Mitarbeiterinnen eingesetzt. Obwohl stets gefordert wird, dass jedes Assessment Center speziell auf die im jeweiligen Unternehmen relevanten "Kompetenzen" zugeschnitten werden müsse, stehen in der Praxis ständig wiederkehrende Kriterien wie "Kommunikationsfähigkeit", "Durchsetzungskraft", "Kooperationsfähigkeit" oder "Führungskompetenz" zu oberst auf der Wunschliste. Es gibt auch typische Übungen, welche in die meisten Assessment Center eingebaut werden. Dazu zählen gewisse Rollenspiele, wie das so genannte "Schlechte Botschaft"-Gespräch, bei dem einer fiktiven Mitarbeiterin eine für sie negative Entscheidung mitgeteilt werden muss, Gruppendiskussionen, Präsentationen oder sog. Postkorbübungen, in denen die Korrespondenz einer fiktiven Managerin sortiert, priorisiert und verarbeitet werden muss. In all diesen Übungen soll der Arbeitsalltag der zukünftigen Führungskräfte möglichst realitätsgetreu simuliert werden. Hinzu kommen häufig psychologische Testverfahren, insbesondere Persönlichkeitstests, die das Selbstbild der Kandidatin dokumentieren sollen.
Das Verfahren, mit dem in einem Assessment Center beurteilt wird, ist meistens stark formalisiert und standardisiert. Um grösstmögliche Objektivität zu gewährleisten, werden die Beobachterinnen angehalten, ausschliesslich Merkmale zu beobachten, die zuvor aus den Anforderungen abgeleitet wurden. In einem weiteren Schritt werden danach diese Beobachtungen beurteilt, in einer Beobachterkonferenz diskutiert und zu einem Gesamturteil zusammengefasst. Die Teilnehmenden und die Auftraggeberinnen erhalten schliesslich diese Beurteilungen und Empfehlungen in Form eines Gutachtens zugestellt. Diese Rückmeldung wird meistens durch ein ausführliches Auswertungsgespräch ergänzt. Dass die verschiedenen Anforderungen an die Teilnehmenden für die Beobachtungen sehr stark in einzelne Kriterien und Merkmale (z.B. "setzt sich nicht auf Kosten anderer durch") ausdividiert wurden, erweist sich beim Verfassen des Gutachtens als Problem. Dort müssen diese Einzelinformationen nämlich zuerst mühsam wieder zusammengesetzt werden, bevor sich ein "stimmiges" Bild ergibt. Weil ein so konstruiertes Assessment Center kein fallrekonstruktives Vorgehen ermöglicht, das eine Auswertung des Übungsverlaufes unabhängig von vorgegebenen Kategorien ermöglichen würde, kann in den Gutachten nur beschrieben werden, was in der Wahl der Kriterien bereits angelegt wurde.
Von den Promotorinnen des Verfahrens wird betont, dass mit jedem Assessment Center den Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Möglichkeit geboten wird, sich selbst besser einschätzen, an sich arbeiten und die eigene Karriere planen zu können. Es wird also behauptet, dass das Assessment Center nicht nur der Selektion dient, sondern auch eine beratende Funktion hat. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass sich die beiden Zielsetzungen "Auswahl" und "Beratung" nicht gleichzeitig einlösen lassen. Das Assessment Center hat immer den Charakter einer Prüfung. Deshalb kann das für eine ernst gemeinte Beratung notwendige Vertrauensverhältnis zwischen der Teilnehmerin und Beraterin gar nicht erst hergestellt werden.
Sanfte Disziplinartechnologie
Uns interessiert nicht so sehr, wie sich Assessment Center besser oder humaner gestalten lassen, sondern welches Bild des Menschen eigentlich hinter diesem Verfahren steht. Dabei interessiert uns auch, welches Bild die Kandidaten von sich selbst haben müssen, um mit den Anforderungen eines Assessment Centers erfolgreich umgehen zu können. Unsere Analyse des Verfahrens stützt sich zu weiten Teilen auf Arbeiten von Michel Foucault und Nikolas Rose. Michel Foucault beschreibt mit den Begriffen "Selbsttechnologie" und "Disziplinartechnologie" zwei verschiedene Arten des Umgangs mit dem Menschen als Individuum. Nach Foucault basiert die Durchsetzung der Disziplinarmacht auf einfachen Instrumenten: auf der hierarchischen Überwachung, der normierenden Sanktion und der Kombination dieser beiden Mittel im Verfahren der Prüfung. Die Disziplinartechnologien stützen sich dabei auf eine Art "Mikro-Justiz", die kleine Vergehen sanft diszipliniert und besonders konformes Verhalten belohnt. Sie wirken dabei vordergründig auf den Körper, zielen dabei aber meistens auf eine Veränderung der Seele der Disziplinierten. Unter Selbsttechnologien versteht Foucault jene Techniken, mit denen Individuen selbständig sich selbst, ihren Körper, ihre Seele oder ihren Geist analysieren, beschreiben und verändern. Das Assessment Center stellt unserer Meinung nach ein Paradebeispiel eines Verfahrens dar, das Selbsttechniken, in der Form der Selbsterkenntnis und des Selbstmanagements, mit Disziplinartechniken verbindet. Diese beiden Techniken stützen sich im Assessment Center gegenseitig und sind zu ihrer Durchsetzung aufeinander angewiesen.
Selbsterkenntnis und Selbstmanagement
Das Assessment Center ermöglicht einerseits Selbsterkenntnis. Diese geschieht im Assessment Center anhand psychologischer Konzepte. Die Wissenschaft Psychologie liefert die zur Erforschung der Teilnehmenden notwendigen Übungen, deren Auswertungsmethoden und Expertinnen. Das Assessment Center verhilft den Teilnehmenden zu Erkenntnis über ihr eigenes Wesen, ihr Potential und ihre Wirkung anderen gegenüber. Oft befriedigen sie dabei auch ihr eigenes Interesse an Selbsterkenntnis. Roger Schneider stellt eine solche Tendenz auch unabhängig vom Assessment Center fest: "Also grundsätzlich mal stelle ich fest, es gibt bei den Leuten irgendwie, ich weiss auch nicht, so eine Geilheit auf Beurteilung, auf Eingeschätzt werden und zwar von den Betroffenen selbst, oder. Also Leute, die irgendwie das Gefühl haben, wir bekommen gerne eine Rückmeldung. Wie bin ich und so und so und kann man das nicht. Ich habe viele Leute, die einfach mir sagen, du kann ich nicht mal so einen Test durchführen". Nikolas Rose hebt hervor, dass es in unserer "gegenwärtigen Erfahrung unseres Selbst" so etwas wie einen "psy-effect" gibt. Darunter versteht er, dass die Psychologie und ihr Wissen zur einzigen Sprache geworden sind, in der wir über unsere Befindlichkeit, unsere Motivation, unser Selbst, aber auch über die Anderen sprechen können. "In being acted upon and acting upon ourselves in these ways, modern human beings (...) have become psychological selves." Das Assessment Center ermöglicht vor diesem Hintergrund die Selbsterforschung und Selbsterkenntnis und stellt sie als lebensentscheidende Umgangsweise mit dem eigenen Selbst dar. Die Selbsterkenntnis ist dabei eng verknüpft mit der Forderung, sich selbst aktiv zu verbessern und an der Elimination der eigenen Schwächen "zu arbeiten". Um den ganzen Prozess eines Assessment Center sowohl erfolgreich bestehen als auch optimal nutzen zu können, ist ein aktives Management des eigenen Selbst erforderlich.
Das Assessment Center fordert somit andererseits ein gezieltes Selbstmanagement. Dazu gehört, dass festgestellte Schwächen eliminiert bzw. weiter gefördert und ausgemachte Stärken verstärkt und angepriesen werden. Dass sich die Bewerberinnen in einem Vorstellungsgespräch gegenüber ihren zukünftigen Arbeitgeberinnen möglichst vorteilhaft präsentieren wollen, ist an sich keine neue Entwicklung. Neu ist hingegen, dass von den Bewerberinnen implizit erwartet wird, dass sie sich nicht nur im übertragenen Sinn möglichst gut verkaufen, sondern auf sich wirklich analoge Konzepte anwenden, wie sie zur Vermarktung eines Wirtschaftsguts entwickelt wurden. Nur wer sich Selbst als ein solches Produkt managt, hat Aussicht auf Erfolg.
Scheitert dieses Selbstmanagement jedoch, kommt unmittelbar der disziplinierende Charakter des Verfahrens zum Vorschein. Als Verfahren der Prüfung kontrolliert das Assessment Center Erfolg oder Misserfolg des Unternehmens "Ich". Dadurch wirkt das Verfahren als Disziplinartechnologie. Disziplinierung und Selbsttechnologie erweisen sich als zwei Seiten der gleichen Medaille. Die Übernahme der Forderung nach konstanter Verbesserung der eigenen Fähigkeiten kann auch als eine Internalisierung der Disziplinierung angesehen werden. Funktioniert diese aber nicht mehr, werden das Assessment Center und die mit ihm verbundenen Verfahren schnell zu einer Disziplinartechnik. Da die Entscheidungsmacht über das Verfahren höchstens zu einem sehr kleinen Teil bei den betroffenen Teilnehmerinnen liegt, ist es ihnen praktisch unmöglich, sich diesem Vorgang zu entziehen. Sie können sich entweder den "Spielregeln" des Assessment Center anpassen und letztendlich zur sich selbst managenden "Ich-AG" werden, oder die Disziplinierung durch den Misserfolg und seine vielseitigen Konsequenzen in Kauf nehmen. Indem das Assessment Center diesen Umgang mit der eigenen Person als Selbstunternehmen fordert, fügt es sich gut in die neoliberalen Bestrebungen ein, sämtliche Bereiche des Lebens nach den Prinzipien des Marktes zu ordnen. Denn das Assessment Center kann auch als eine Antwort auf das zentrale Problem des Umgangs mit der Freiheit in einer liberalen Gesellschaft aufgefasst werden. Es gibt eine Antwort auf die Frage, wie die Individuen dazu gebracht werden können, die Freiheit, die ihnen der Liberalismus garantiert, richtig zu nutzen. Wer seine Freiheit zum Selbstunternehmertum nicht nutzt und sich dem geforderten Verhalten nicht unterordnet, nicht an sich arbeiten will oder uneinsichtig ist, die wird per Androhung einer Strafe dazu gedrängt. Durch das Assessment Center entfaltet sich im Unternehmen eine "Mikro-Justiz", ähnlich wie sie Foucault in "Überwachen und Strafen" bereits für andere Institutionen beschrieben hat.
Dieser disziplinierende Prüfungscharakter des Assessment Centers wird in der aktuellen Diskussion jedoch durchgehend verschleiert. Erst wenn man sich vergegenwärtigt, was ein Scheitern für die Einzelne bedeuten kann, wird klar, dass in vielen Fällen vom propagierten Nutzen für alle Beteiligten nicht die Rede sein kann. Selbsterkenntnis und Selbstmanagement sind in diesem Zusammenhang als Techniken des richtigen Umgangs mit Freiheit zu verstehen, die sich mit Hilfe einer "Mikro-Justiz" durchsetzen können. Die besprochenen Wirkungsweisen des Assessment Center passen deshalb zur Konzeption von Freiheit im Neoliberalismus. Nikolas Rose formuliert treffend: "the forms of freedom we inhabit today are intrinsically bound to a regime of subjectification in which subjects are not merely 'free to choose', but obliged to be free, to understand and enact their lives in terms of choice under conditions that systematically limit the capacities of so many to shape their own destiny."
Gaudenz Steinlin und Markus Studer studieren Soziologie an der Universität Bern. Der Artikel basiert auf ihrer Fachprogrammsarbeit “Assessing the Self – Rationalisierung der Personalarbeit und Selbstmanagement im Assessment Center-Verfahren”.
Literaturauswahl
Bröckling, Ulrich, Krasmann, Susanne und Lemke, Thomas (Hrsg.) (2000): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/Main.: Suhrkamp.
Hollway, Wendy (1984): Fitting work: psychological assessment in organizations, in: Henriques, Julian et all. (Hrsg.): Changing the Subject, London: Methuen & Co, S. 26-59.
Kompa, Ain (1989): Assessment Center. Bestandesaufnahme und Kritik, München: Rainer Hampp.
Lemke, Thomas (2000): Neoliberalismus, Staat und Selbsttechnologien. Ein kritischer Überblick über die governmentality studies, in: Politische Vierteljahresschrift, 41(1), S.31-37.
Rose, Nikolas (1998): Inventing our selves. Psychology, power, and personhood, Cambridge: Cambridge University Press.
Rose, Nikolas (1993): Governement, authority and expertise in advanced liberalism, in: Economy and Society, 22(3), S. 283-299.
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