Tod und Sterben im Spiegel von Todesanzeigen
Die Entzauberung der Welt, die grossen Fortschritte der Medizin, sowie die zunehmende Individualisierung veränderten in den letzten hundert Jahren das Verhältnis zum Sterben und Tod in der westlichen Gesellschaft. Vor rund hundert Jahren waren die Menschen mit dem Tod vertraut und begegneten ihm mit traditionellen und religiösen Riten. Im Laufe der Zeit ging diese Vertrautheit mehr und mehr verloren, so dass zunehmend eine Hilflosigkeit angesichts des Todes beobachtbar ist. Dieser kulturelle und gesellschaftliche Wandel kann mit einer Analyse von Todesanzeigen der letzten 100 Jahren nachgezeichnet werden. Im Rahmen unserer Forschungsarbeit untersuchten wir 660 Todesanzeigen der NZZ und dem Tagblatt der Stadt Zürich.
SOZ-MAG Beitrag von Barbara Cahn-Wegmann und Daniel Cahn
Wie der Tod interpretiert wird, unterscheidet sich von Kultur zu Kultur. Die "Fähigkeit" dem Schrecklichen und Unfassbaren einen Sinn zu geben und die Angst vor dem Tod, wenn schon nicht völlig zu beseitigen so doch zu bändigen, ist nicht in jeder Gesellschaft gleichermassen ausgebildet. Die Vorstellungen vom Tode und die zugehörigen Rituale wandeln sich im Zuge der Gesellschaftsentwicklung. Bei Vergleichen des Umgangs mit dem Tod zwischen vormodernen und modernen Gesellschaften zeichnet sich ein erhebliches Sinngebungsdefizit des Todes in modernen Gesellschaften ab.
Vom Todesboten zur Todesanzeige
Die ersten gedruckten Todesanzeigen tauchen anfangs des 19. Jahrhunderts auf und werden im Laufe des Jahrhunderts zunehmend häufiger. Damit sind die Zeiten vorbei, als die Nachricht des Todes einer Person durch besondere - meistens weibliche - Todesboten von Haus zu Haus verbreitet wurde (in Zürich das "Leichenhuhn" genannt). Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind die Todesanzeigen nicht in allen Regionen der Schweiz gebräuchlich. Gerade in ländlichen Gegenden erübrigt sich oft eine Mitteilung in der Zeitung, da die meisten Verwandten im selben Ort leben.
Auch in städtischen Gebieten können sich die Todesanzeigen erst nach und nach durchsetzen. Sie haben in den Tageszeitungen noch keine eigene Rubrik, sondern finden sich meistens spärlich verteilt zwischen den Wirtschaftsannoncen. In der NZZ nehmen die Todesanzeigen erst um 1950 täglich zirka eine halbe Seite in Anspruch. Nicht nur die Anzahl, sondern auch die Grösse der Anzeigen nimmt im Laufe des Jahrhunderts zu.
Heute haben die Todesanzeigen meistens eine eigene Rubrik - eine der beliebtesten in den Tageszeitungen! Dies führt immer wieder zu Zweckentfremdungen: So kann es vorkommen, das Todesanzeigen als Werbemittel gebraucht werden, zum Beispiel für eine Theateraufführung oder die Neueröffnung eines Geschäftes.
Das Verfassen einer Todesanzeige ist für die Hinterbliebenen eine schwierige und heikle Aufgabe. Der Text muss so gewählt werden, dass die ganze Verwandtschaft, oftmals mehrere Generationen, damit einverstanden sind.
Der Glaube an Gottes Allmacht.
Die Todesanzeigen haben sich in dem von uns untersuchten Zeitraum (1902-2002) stark gewandelt. Hatten die Anzeigen zu Beginn des Jahrhunderts in erster Linie einen informativen Charakter, sind sie heute ein Mittel der Trauerverarbeitung für die Hinterbliebenen.
Die ältesten von uns erfassten Todesanzeigen informieren in konventioneller Form vom Tod einer Person und geben zudem Ort und Zeit der Beerdigung bekannt.
Der Informationscharakter der Anzeige kommt in der damals sehr oft verwendeten Redewendung "...machen die schmerzliche Mitteilung..." zum Ausdruck. Trauer wird noch nicht offen bekundet. Der Schock über den Tod eines nahen Angehörigen wird in einer normierten Floskel verhüllt. Trost suchen die Hinterbliebenen in ihrem Glauben. Dies zeigt sich in der hohen Anzahl von Anzeigen mit transzendenten, auf ein Jenseits bezogenen Inhalten. 1902 sind 50% der Anzeigen transzendent.
Anfang des 20. Jahrhunderts sind die mit dem Tod verbundenen kirchlichen Rituale in der Bevölkerung noch stark verwurzelt. Sie helfen den Menschen dem Tod einen Sinn zu geben. Der Glaube an Gottes Allmacht kommt deutlich zum Ausdruck. Der Tod einer Person wird nicht gewertet, so wird beispielsweise nicht geklagt, wenn ein noch junges Leben zu Ende gegangen ist. Der Entscheid über Leben und Tod liegt in den Händen Gottes. Besonders deutlich wird dies in Todesanzeigen von Kindern.
Mit dem Tod verliert der Mensch seine private Sphäre. Der Verstorbene und die vom Leid betroffenen Angehörigen werden in den Mittelpunkt des Interesses gestellt und so aus der Privatheit des Trauerns herausgeholt. Der Tote wird mit einem genauen rituellen Ablauf aus der Gemeinschaft der Lebenden entlassen: Der Leichnam wird im Trauerhaus aufgebahrt. In gewissen Regionen wird eine Totenwache abgehalten. Am folgenden Tag verlässt nach einer Speisung der "Leidleute" der Trauerzug mit dem Sarg das Trauerhaus. Es folgt die Abdankung oder die Totenmesse. Nach den düsteren Stunden der Totenwache oder des Trauergeleits findet in vielen Gebieten das Leichenmahl statt.
Die Medikalisierung des Todes
Mit der Etablierung des medizinischen Denkens verändert sich das Verhältnis zum Tod und dem Sterben. Die Länge des Lebens ist kein gottgewolltes Schicksal mehr, sondern kann durch medizinische Erkenntnisse und ärztliches Handeln beeinflusst werden. Jeder Tod erfolgt zu früh und hätte bei besseren wissenschaftlichen Kenntnissen vermieden werden können. Mit dem Siegeszug der Medizin wird jeder Todesfall als Versagen der Gesellschaft, als gewaltsamen Eingriff in die menschliche Ordnung wahrgenommen.
Durch die sich verbreitende naturwissenschaftliche Denkweise geht der Einfluss der Religion auf die Lebensführung der Menschen immer mehr verloren. Waren 1902 noch 50% der Anzeigen transzendent, sind es 2002 nur noch rund 5%.
Es ist bis heute nicht gelungen den Tod zu erklären. In unserer rationalen Welt, in welcher keine klaren Jenseitsvorstellungen mehr bestehen, wird der Tod zur Absurdität. Dieses Sinngebungsdefizit zeigt sich in den Anzeigen. Die Hinterbliebenen versuchen dem Tod eines Angehörigen einen diesseitigen Sinn zu geben. War der Verstorbene alt oder schwer krank, wird der Tod positiv, als Erlösung gewertet. Ist der Grund für den Tod jedoch ein Unfall oder plötzliches Herzversagen, reagieren die Hinterbliebenen hilflos. Sie bewerten den Tod negativ.
Die Gründe für diese Wertung des Todes dürfen nicht nur mit der Säkularisierung in Verbindung gebracht werden. Durch die enormen medizinischen Fortschritte in den letzten hundert Jahren ist der Tod immer häufiger mit einem langen Leidensweg verbunden. Früher war das ideale Sterben ein langsamer Prozess, welcher dem Sterbenden Zeit liess, sich von allem Irdischen zu trennen. Am Ende des Lebens sollten nur noch die Sakramente und das Gebet von Bedeutung sein. Heute entspricht dem idealen Tod genau der einstmals verabscheute, unmerkliche und plötzliche Tod. Dieser ist jedoch wegen der medizinischen Fortschritte eher selten geworden.
Die zunehmende Hilflosigkeit im Umgang mit dem Tod ist aber auch darin zu suchen, dass wir in unserer Gesellschaft nur ganz selten mit ihm in Berührung kommen. Gründe dafür sind erstens die veränderten demographischen Bedingungen beziehungsweise die Erhöhung der mittleren Lebenserwartung. Den Tod von Bezugspersonen erfährt man erst in einem relativ hohen Alter, den Tod der Eltern zum Beispiel, wenn man sich innerlich bereits stärker von ihnen gelöst hat. Durch dieses "Entlastet sein" vom Problem des Todes bis ins Erwachsenenalter, trifft er uns zunehmend unvorbereiteter.
Zweitens verlagert sich der Sterbeort von Zuhause ins Krankenhaus. Das Sterben findet heute immer häufiger in Institutionen statt. Durch diese Entwicklung wird der Tod nicht mehr bewusst erlebt, sondern er wird aus dem Alltag verdrängt.
Von der Todes- zur Traueranzeige
Die Funktion der Todesanzeigen hat sich in dem von uns untersuchten Zeitraum grundlegend verändert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts diente eine Anzeige dazu Verwandte, Freunde und Bekannte über den Tod einer Person zu informieren. Heute ist das Verfassen einer Todesanzeige der erste Schritt in der individuellen Trauerarbeit. Die Hinterbliebenen rücken sich und ihre Gefühle immer mehr ins Zentrum. Die Anzeigen haben ihren Mitteilungscharakter verloren. Hiess es einstmals "unser Vater ist sanft entschlafen", heisst es heute "unser Vater hat uns für immer verlassen". Dieser Wandel lässt sich auch mit Zahlen eindrücklich belegen: 1902 hatten 93% der Anzeigen einen Mitteilungscharakter, 1952 waren es 33% und 2002 nur noch 7%. Die Todesanzeigen haben sich zu Traueranzeigen gewandelt.
Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden die Todesanzeigen immer emotionaler. Die Menschen versuchen zunehmend ihre Gefühle, ihre Trauer und ihre Beziehung zum Verstorbenen auszudrücken. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind es nur 1% der Anzeigen in welchen explizit Trauer bekundet wird, 1952 sind es 5% und im Jahre 2002 25%. Manche Hinterbliebenen schreiben schlicht "Wir sind sehr traurig", andere beteuern "in unseren Herzen wird sie ewig weiterleben". Oft wenden sich die Angehörigen nochmals an den Verstorbenen, beispielsweise "Wir vermissen dich" oder "Kari, Du warst ein wunderbarer Vater". Andere bedanken sich für alles, was der Verstorbene für sie getan hat: "Für Deine Liebe und Güte, die Du Deinen Mitmenschen geschenkt hast, danken wir Dir von ganzem Herzen."
Mediale Emotionalisierung
Wo sind Gründe für diese zunehmende mediale Emotionalisierung im Umgang mit dem Tod zu suchen?
Seit dem 18. Jahrhundert ist zu beobachten, dass sich die affektiven Bindungen eines Menschen auf einen zahlenmässig immer kleineren Kreis der Familie beschränken. Dies zeigt sich in den zunehmend expressiven Trauerbekundungen beim Tod der Ehefrau und der Kinder.
Wie stark man vom Tod eines Menschen betroffen ist, hängt nicht nur von der Häufigkeit ab, mit der man den Tod anderer Menschen schon erlebt hat, sondern vom Charakter der Beziehung, welche man zu eben diesem Menschen hat. Wird der Tote als unersetzlich empfunden, kann die Trauer zu einem immer dramatischeren Problem werden. Entscheidend ist vor allem der Grad der Exklusivität und Intensität der affektiven Bindungen. Verteilen sich die Affekte eines Menschen auf ein grösseres Netz Angehöriger, so ist die Trauer über den Verlust eines Angehörigen oft weniger einschneidend.
Diese exklusive Emotionalisierung bestimmter persönlicher Beziehungen ist ihrerseits verknüpft mit einer stärker werdenden Emanzipierung des Einzelnen. Das Individuum ist auf sich selbst gestellt und erlebt seine Trauer als ein isoliertes und nur es betreffendes Ereignis. Da dieser Zustand unerträglich zu sein scheint, stellt es sein Leiden und seine Trauer in der massenmedialen Öffentlichkeit zur Schau.
Diese öffentliche emotionale Selbstinszenierung steht in starkem Widerspruch dazu, dass die Bestattung meistens unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet. Die Bemerkung "die Urnenbeisetzung findet im engsten Familienkreis statt" kann erst nach 1942 vermehrt gefunden werden. Im Jahr 1982 sind es bereits 28% der Anzeigen, welche auf eine private Bestattung hinweisen.
Trauer und Tod im Wandel
Die Todesanzeigen haben sich in dem von uns untersuchten Zeitraum stark verändert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten sie die Aufgabe Angehörige und Freunde über den Tod einer Person zu informieren. Heute sind sie zu einer medialen Plattform der Trauerverarbeitung geworden. Dieser Funktionswechsel ist auf kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen zurückzuführen, welche den Umgang mit dem Tod beeinflussen.
Die sinnstiftenden religiösen Rituale, die der Bewältigung des Todes gedient haben, sind verloren gegangen und nicht durch neue ersetzt worden. Die kollektive ritualisierte Trauer verschwindet zunehmend. Die Beerdigungen sind kein öffentlicher Akt mehr. Das Tragen von Trauerkleidung ist unüblich geworden und auch Totenmessen werden nur noch selten abgehalten. Heute wird individuell getrauert. Explizite Trauerbekundungen und die Verbalisierung von Gefühlen in den Todesanzeigen sind die ersten Schritte in der individuellen Verarbeitung.
Eine neue Form der Bewältigung von Trauer, welche sich in Zukunft vielleicht auch in der Schweiz durchsetzen wird, sind virtuelle Gedenkseiten im Internet (Web-Memorials). Dabei handelt es sich oft um aufwendig gestaltete Erinnerungsseiten mit Texten, Fotos, Video- und Tonsequenzen. Haben wir es hier mit der zukünftigen Form der Trauerverarbeitung zu tun?
Barbara Cahn-Wegmann und Daniel Cahn studieren Soziologie an der Universität Zürich. Als Nebenfächer haben sie Volkskunde und Volksliteratur respektive Computerlinguistik und Publizistikwissenschaften belegt.
Literaturauswahl
Ariès, Philippe (1980): Geschichte des Todes. München/Wien: Carl Hanser Verlag.
Elias, Norbert (1982): Über die Einsamkeit der Sterbenden. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Fuchs, Werner (1969): Todesbilder in der modernen Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Hugger, Paul (2002): Meister Tod. Zur Kulturgeschichte des Sterbens in der Schweiz und in Liechtenstein. Zürich: Offizin.
< Zurück | Nächste > |
---|