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soziologie.ch soz:mag#5 "was muss ein künstler alles sein?"

"was muss ein künstler alles sein?"

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Paul Klees personale und kollektive Identität. Eine Rekonstruktion.

„Individualität“ als eine Form der Distinktion ist Paul Klee in jeder Hinsicht sehr wichtig; ob als Ehemann, Bürger oder Künstler arbeitet Klee an einem eigenen, unverwechselbaren Selbstbild. Sowohl in seiner Liebes-Beziehung zu Lily Stumpf wie auch in seiner Berufskarriere erweist sich Paul Klee als ein «moderner Mensch», als ein autonomes Individuum, das sich in der Interaktion mit anderen und in der Selbstreflexion eine eigene, unverwechselbare «personale Identität» konstruiert. Zeugnisse dieser Selbstbeschreibung sind seine Tagebücher und seine Briefe an die Familie.

SOZ-MAG Beitrag von Rosalina Battiston

Der moderne Künstler als individueller Schöpfer (er)findet nicht nur seine einzigartigen Kunstwerke, sondern auch sich selber. Seine Selbstbeschreibung kann er jedoch erst als gelungen und damit authentisch erfahren, wenn sie von der Umwelt bestätigt wird. Dies ist bedingt durch die intersubjektive Verfasstheit des Menschen. Norbert Meuter (1995) unterscheidet zwei wesentliche Aspekte, die Individualität und damit «personale Identität» eines «modernen Individuums» sichtbar und analysierbar machen: Die Gestaltung von Intimbeziehungen und die Berufskarriere. Das «moderne Individuum» erarbeite sich eine eigene Lebensgeschichte durch die Partizipation an verschiedenen sozialen Funktionssystemen und durch die Aneignung von Handlungskompetenzen. Es schaffe sich damit reflexiv eine eigene Biographie durch Selbstbeschreibung.

Ein Individuum, das sich selber eine personale Identität gibt, definiert immer auch, zu welcher sozialen Gruppe es gehört oder eben nicht gehören kann oder will. Einschluss und Ausschluss sind die Kennzeichen der intendierten, zugeschriebenen oder aufoktroyierten Zugehörigkeit eines Individuums zu einer Ethnie, Kultur oder Nation – damit sind sie Kennzeichen seiner «sozialen» respektive «kollektiven Identität». Ein Subjekt, das sich nirgends zugehörig fühlt, dass keine Anerkennung seiner selbst erfährt, riskiert gesellschaftlich «diskursiv unsichtbar» zu werden.

Im folgenden Kapiteln will ich darlegen, wie Paul Klee sich selber über seine Intim-Beziehungen und über seine Berufskarriere sowohl eine «personale» als auch eine «kollektive Identität» (er)findet. Als Quellenmaterial dienen mir einerseits Paul Klees Briefe an seine Familie und andererseits seine Tagebücher. Obschon Paul Klee seine Tagebücher mehrmals überdacht und umgeschrieben hat, bleiben sie Quellen der Selbstreflexion und der Selbstbestimmung. Dies gilt auch für seine Briefe: Sie sind stilisierende Selbstbestimmungen, Teile einer Konstruktion, eines Existenzentwurfs.

Personale Identität: Die Selbst(er)findung in der Intim-Beziehung

Der grossen Liebe seines Lebens begegnet Klee an einem Hauskonzert in München im Herbst 1899. Klee notiert in seinem Tagebuch: „Lily Stumpf, aus sehr feiner und sehr reicher Familie. Ihr Vater ist ein viel betitelter Arzt. Die Mutter ist gestorben. Ein Charakter, der mir vollständig neu und darum riesig interessant ist.“

Lily Stumpf ist drei Jahre älter als Paul Klee, sie ist hochgebildet und von Beruf Pianistin. Sie ist nicht einfach „ein Weib“, sondern „ein einzigartiges Individuum“. Sie ist ihm ebenbürtig, eine Rebellin, eine Künstlerin wie er, ein Mensch, der nach Persönlichkeit strebt und sich nicht in soziale Rollenkorsetts einzwängen lässt. Klee meint: „Ich weiss, dass ich an Dir mehr habe, als ich je glaubte, dass ein Mensch einem andern geben könne. Du hast die Gabe, mir ein wahrer Freund zu sein für’s ganze Leben. [...] Dann haben wir sich ergänzende Berufe, das Gebiet der Kunst [...]. So kommen wir zu einer Beherrschung aller Zweige der Kunst und werden dadurch sicherlich das Leben reicher und tiefer finden, als es ohne das uns erschiene.“

Während ihrer sechsjährigen Verlobungszeit – Lily Stumpf lebt in München, Klee in Bern – halten sie sich gegenseitig brieflich auf dem Laufenden, was gesellschaftlich und kulturell in Bern und München läuft; sie informieren einander über neueste künstlerische Trends, gesellschaftlichen Klatsch sowie politische Skandale. Lily Stumpf ist für Paul Klee eine Vertraute, eine Verbündete, eine Ratgeberin, eine gebildete Gesprächspartnerin, auf deren Urteil Verlass ist: „Niemand kann behaupten, dass es keinen geistigen Verkehr gebe zwischen Mann und Weib“. Dies gilt auch in Sachen Kunst. Klee nimmt aber auch teil an Lily Stumpfs Leben und ihrer Karriere als Pianistin. Er bewundert ihre „gute, tüchtige Lebensauffassung“; er ist stolz, dass sie eigenes Geld verdient. „Es freut mich, wenn Du stark bist, das mahnt mich an das Nachahmenswerte.“ Sie entwickeln gemeinsame Werthaltungen für ein gelungenes Leben als Künstler und Liebende, das – und dessen sind sie sich beide bewusst – nicht den bürgerlichen Vorstellungen entspricht.

Am deutlichsten wird dies im Loslösungsprozess vom jeweiligen Elternhaus sichtbar. Das sozialmoralische bürgerlich-patriarchalische Milieu dient ihnen lediglich als Referenz, nicht aber als umzusetzender Imperativ – oder gar als Ideal. Beide lösen sich radikal von den Vorstellungen ihrer jeweiligen Herkunftsmilieus und gestalten ihr gemeinsames Leben nach ihrem eigenen Gutdünken. Sie unterstützen sich damit gegenseitig in der Konstitution einer eigenen personalen Identität – in der Konstruktion einer «modernen Identität». Die Ehe ist für sie eine Zweckgemeinschaft, die der persönlichen und beruflichen Weiterentwicklung beider dient. „Arbeiten werden wir eben zu zweit. Wie lange weiss ich nicht, man darf mich einmal nicht bürgerlich werten.“ Für Paul Klee hat es in einer solchen Ehe keinen Platz für Kinder: „Von diesen nutzlosen Wesen gibt es im Überfluss. ?...? O Familie! Niemals!!!“. Als jedoch 1907 ihr einziger Sohn geboren wird, übernimmt Paul Klee die Haus- und Erziehungsarbeit. Bis zu seiner militärischen Einberufung 1916 führt er den Haushalt, kocht, kümmert sich um die Kindererziehung und bildet sich selber als Geiger und Künstler weiter. „In dieser hochkünstlerischen Atmosphäre wuchs ich [Felix Klee] auf, am Rockschoss des Vaters hängend.“

Paul Klees Beziehung zu Lily Stumpf ist weder durch seinen Stand noch durch andere traditionale Merkmale gekennzeichnet. Es ist die freie Wahl zweier Individuen, die sich als ebenbürtig erachten und sich zum Ziel setzen, ihre beider Entwicklungen als Künstler zu fördern. Dies entspricht nicht dem damals tradierten bürgerlichen Ideal einer Ehe, sondern ihren persönlichen und selber definierten Vorstellungen eines guten Lebens.

Personale Identität: Die Selbst(er)findung im Beruf

«Künstler» ist für Paul Klee der individuellste aller Berufe. Er wähle die „Kunstmalerei als Lebensaufgabe“, schreibt Klee in sein Tagebuch. Dahinter steckt die bürgerlich-romantische Vorstellung des 19. Jahrhunderts von der soziokulturellen Entrückung des Künstlers: Ein Künstler muss – frei von gesellschaftlichen Zwängen – sich selber sein; Kunst ist kein zweckrationaler Beruf, sondern eine Profession aus «innerer Berufung», die sich nicht in die technisch-industrielle Welt einfügen lässt. Kunst gilt somit als ein «Menschwerdungsprozess». Wie die meisten modernen Künstler seiner Zeit wächst Klee in einem kleinbürgerlichen, künstlerischen Umfeld auf; der Vater ist Musiklehrer am Lehrerseminar in Münchenbuchsee und seine Mutter Sängerin. Beide Eltern sind also reproduzierende Künstler. Hans Peter Thurn (1997) spricht von einem «bürgerlichen Milieu verhinderter Künstler», welches prägend für die Lebensgestaltung und die Berufsauffassung moderner Künstler ist. Kennzeichnend für dieses Milieu seien bürgerliche, protestantisch-ethische Tugenden wie Genügsamkeit, Einsatzbereitschaft sowie Fleiss, gepaart mit der Auffassung, dass die Tätigkeit eines Künstlers seine ganze Person beanspruche. Dies trifft auf Paul Klee zu. Sein „lieber guter Vater, der Idealist und Gesangspädagoge“ kann ihm – wie Klee in seinem Tagebuch dokumentiert – kein Vorbild sein: „Die wahre Kunst ist nicht ‚Können’, sondern ‚nicht anders können’ und das hat er nie erfahren.“

Klees Ausbildung zum Künstler dauert mehr als 20 Jahre. Er ist 40 Jahre alt, als er 1919 beim Münchner Kunsthändler Hans Goltz einen Generalvertretungsvertrag unterzeichnet, der ihm ein fixes Jahreseinkommen sichert. Damit ist Klee endlich die finanziellen Sorgen los: „Das Wunder einer Würdigung meines Schaffens hat sich erfüllt.“ Die künstlerische Karriere von Paul Klee bis 1919 zeigt exemplarisch, dass er sich als «moderner» Mensch bei der Wahl und bei der Erlernung eines Berufes nicht auf vorgegebene Handlungs- und Orientierungsmuster stützen kann. Klee ist gezwungen, sich in Eigenregie eine Identität als Künstler zu konstruieren und damit den Habitus eines modernen Künstlers anzueignen und mitzugestalten. Er liest Fach-Zeitschriften; er studiert anhand von Büchern damals führenden Kunstkritiker die Kunstgeschichte des Abendlandes; er analysiert Biographien und Monographien berühmter Maler; er besucht Ausstellungen im In- und Ausland; er diskutiert mit Lily Stumpf und befreundeten Künstlern über Kunst und über seine eigenen Werke. Dieser lange, reflexive Prozess ist von Rückschlägen, Krisen und Selbstzweifeln gekennzeichnet – und nicht immer frei von Brüchen.

Klee ist sich zudem sehr wohl bewusst, dass Talent alleine nicht ausreicht, um Erfolg zu haben: „Was muss ein Künstler alles sein, Dichter, Naturforscher, Philosoph. Und nun bin ich auch noch Bürokrat geworden...“ Er lässt Kunstkarten anfertigen „wie ein Marktschreier“; eignet sich im Diskurs mit anderen Künstlern Wissen und eine Berufsgrammatik an; macht mit bei Künstlervereinigungen und Gruppenausstellungen, die eine gewisse Resonanz versprechen; sucht den Kontakt zu Galeristen, Kunsthändlern und führenden Kunstkritikern; entwickelt Verkaufsstrategien bei der Auswahl der auszustellenden Werke; informiert sich über die Preise anderer Kunstwerke und entwickelt eine bewusst gestaltete Preispolitik für die eigenen Werke; redigiert die Tagebücher und wirkt bei der Veröffentlichung von Monographien über sich mit, gestaltet also das öffentliche Bild von sich aktiv mit; publiziert Aufsätze und hält Referate über moderne Kunst mit pädagogischer Funktion.

Aus soziologischer Betrachtungsperspektive ist Klee ein «moderner Mensch», der sich als Berufsmensch die Identität eines «modernen Künstlers» konstruiert. Zu Beginn seiner beruflichen Karriere greift er auf bürgerliche Orientierungs- und Handlungsmuster zurück, wendet sich dann aber von diesen ab und eignet sich im Selbststudium und in der Interaktion mit „kultivierten Menschen“ und führenden Künstlern seiner Zeit den Habitus eines modernen Malers an. Allerdings ist er der festen Überzeugung, dass es sein Schicksal ist, Maler zu sein. Er ist sich dessen nicht bewusst, dass er sich selber zum Künstler erfindet, indem er teilweise auf Legenden und Mythen dieses Berufes zurückgreift.

«Künstler sein» ist für Klee auch ein individuell gewählter Lebensstil, doch orientiert er sich hierfür nicht an der Bohème. Er pflegt eine dezidiert kultivierte Bildungs-Bürgerlichkeit, die sich sowohl in seiner Arbeitsethik, in seinem lebenslangen, disziplinierten Selbststudium wie auch in seinem Beziehungsnetz und seinem Kleidungsstil manifestiert. „Klee wirkte weltmännisch, man hätte in ihm eher einen Industriellen als einen Maler vermutet“, meint der Schweizer Bildhauer Alexander Zschokke, als er ihn 1931 in der Düsseldorfer Akademie kennen lernt. In seinem künstlerischen Schaffen hingegen ist er kompromisslos individuell und passt sich auch keiner Marktsituation an. Davon ist die Kunsthändlerin und Klee-Kennerin Angela Rosengart überzeugt.

Bis zu Beginn der 1930er Jahre erfährt er Anerkennung für seine Selbstbeschreibung als Künstler, was sich einerseits in seinem kommerziellen Erfolg und andererseits in seiner Berufung an das Bauhaus und später an die Düsseldorfer Akademie wiederspiegelt. Mit der Nazi-Herrschaft wird Paul Klee persönlich und die «kulturelle Moderne» im Allgemeinen diffamiert; der sozio-kulturelle Kontext entzieht ihm seine Anerkennung. Ähnliches widerfährt ihm in der Schweiz: In den Fichen der offiziellen Schweiz wird er als «deutscher Kulturbolschewist» stigmatisiert, was einer dreifachen Diskriminierung gleichkommt: er wird damit als Deutscher, als moderner Künstler und als vermeintlich Linker verfemt.

Am Ende seines Lebens muss Paul Klee seine Selbstbeschreibung als gescheitert erachten. Er muss sich dessen auch bewusst gewesen sein, denn er wird «diskursiv unsichtbar». Bei Klee manifestiert sich dies in seinem Rückzug aus der Öffentlichkeit, was teilweise aber auch auf seine Krankheit zurückzuführen ist. (Die Ärzte diagnostizierten 1936 bei Paul Klee Sklerodermie.) Seine Werke werden zwar in Schweizer Museen ausgestellt, Klee selber nimmt jedoch nicht mehr am öffentlichen Diskurs über Kunst teil; er publiziert keine kunstkritischen Traktate; er sucht auch nicht die Auseinandersetzung mit anderen Künstlern; er macht auch nicht mehr aktiv bei Künstlervereinigungen mit; er exponiert sich weder als Künstler noch als Bürger in der Schweizer Öffentlichkeit. Er ist kein aktiver Repräsentant der modernen deutsch-sprachigen Kultur mehr, zu der er sich zugehörig zählte, und die – bis 1933 – ein sinnstiftendes Merkmal seiner Identität ist. Er beraubt sich damit jeglicher kollektiver Identität und sozialer Verortung. Gleichzeitig wird er auch gesellschaftlich bewusst «diskursiv unsichtbar» gemacht, einerseits durch das Nazi-Regime und andererseits durch das Desinteresse und die teilweise Herabwürdigung durch die Schweizer Kunstszene.

Soziale Identität: Die Selbst(er)findung im Kollektiv

Heute würden wir Paul Klee als einen typischen «Secondo» bezeichnen, als einen Sohn von Emigranten. Sein Vater war Deutscher und emigrierte als Erwachsener in die Schweiz. Seine Mutter, schreibt Paul Klee:„ [...] ist zur Hälfte Schweizerin (Basel). Ihre übrige Abstammung ist nicht völlig geklärt, sie kann über Südfrankreich orientalisch sein.“

Paul Klee lebt bis zum seinem 19. Lebensjahr in seiner, wie er selber schreibt, „Vaterstadt Bern“. Als «Secondo» hat er im Gegensatz zu seinen Berner Altersgenossen keine Niederlassungsfreiheit und kein Wahl- und Stimmrecht. Er kann sich auch nicht für ein Kunststipendium bewerben. Der Studien-Aufenthalt in München verändert nachhaltig seine Einstellung zur Schweiz. Dafür sind zwei Faktoren verantwortlich: die künstlerische Rückständigkeit der modernen Schweiz und die Debatten über den Sozialismus. Paul Klees sozialkritische Haltung wird im Wesentlichen von zwei Menschen geprägt: Lily Stumpf und Philipp Lotmar.

Lily Stumpf entfernt sich ab 1902 entschieden von den Wertvorstellungen ihres grossbürgerlichen Herkunftsmilieus und schliesst sich sogar der Kritik der bourgeoisen Sexualmoral von August Strindberg und Otto Weininger an. Ausserdem pflegt sie in München den Umgang mit russischen Anarchisten. „Über Deine russischen Beziehungen freute sich Lotmar sehr“, schreibt Paul Klee 1905.

Philipp Lotmar ist Professor der Jurisprudenz in Bern, ein deutscher Jude aus Frankfurt mit entschieden demokratischen Ansichten, ein Linksliberaler. Klee bleibt skeptisch; er kann sich nicht vorstellen, dass Sozialismus und Individualismus – und damit künstlerische Freiheit – vereinbar sind. Paul Klee wird zeitlebens nie einer politischen Partei beitreten oder sich als privater Bürger politisch exponieren. Doch die Auseinandersetzung mit dem Sozialismus prägt seine kognitive und normative Verhaltens- und Einstellungsorientierung massgeblich.

Paul Klees dezidiertes Ziel ist es, ein international erfolgreicher «moderner Künstler» zu werden. Und dafür scheint ihm die Schweiz bald nicht mehr den geeigneten kulturellen Kontext zu liefern. 1906 schreibt er: „Im Lande Schweiz sollte das Volk ehrlich sein und die Kunst gesetzmässig verbieten. [...] Hier sind sie rechte Halbbarbaren.“ Er sucht in München keine neue Heimat, sondern ein intellektuelles Umfeld, in dem sein Künstlerwerdungsprozess weiter reifen kann. So wird er denn auch seine Beziehungen in Bern nie aufgeben. Paul Klee unterscheidet einerseits zwischen deutschem Volk und Nation, die er „nicht gerade zärtlich liebt“ und andererseits deutscher Kultur, zu der er sich zugehörig fühlt – wie im übrigen praktisch alle Schweizer Intellektuellen jener Zeit. Bereits 1905 entwickelt Klee eine kritische, ja misstrauische Einstellung zum „Begriff Nationalität“, den er einen „Menschenverbrechertumsbegriff“ nennt. Dieser Einstellung wird er treu bleiben, auch als Hitler 1933 an die Macht gelangt und die Nazis ihn wegen der unklaren Herkunft seiner Mutter einen «galizischen Juden» schimpfen. Sich gegen diese „plumpen Anwürfe“ zu wehren, scheint ihm „unwürdig: Denn: wenn es auch wahr wäre, dass ich Jude bin und aus Galizien stammte, so würde dadurch an dem Wert meiner Person und meiner Leistung nicht ein Jota geändert.“

Paul Klee hat denn auch keine «nationale Identität», sondern eine «doppelte Staatsidentität»; er glaubt an universale Gerechtigkeitsprinzipien und ist sowohl Schweizer als auch Deutscher, ohne sich mit den jeweiligen politischen Systemen zu identifizieren. Durch seinen hohen Grad an Individualisierung, seine soziale und kulturelle Mobilität, entwickelt Klee eine «universalistische Moral», die weder an eine Nation noch an eine lokale Machtgruppe gebunden ist. Damit definiert er sich auch nicht als Bürger eines bestimmten Landes, sondern als Künstler einer bestimmten Kultur, einer modernen Gesellschaft. Dies dürfte mit ein Grund sein, warum Paul Klee – und mit ihm viele andere Künstler, Künstlerinnen und Intellektuelle in Deutschland – die Folgen der Machtübernahme durch Hitler lange unterschätzten. Dass Klee bereits 1933 die Situation pessimistischer einschätzt und in die Schweiz übersiedelt, verdankt er dem Einfluss seiner Frau, die ihm an politischer Einsicht überlegen ist.

Im Gegensatz zu Deutschland ist die Feindseligkeit gegenüber der gesamten Moderne in der Schweiz nicht so militant wie im nördlichen Nachbarland, doch moderne Kunst wird auch hier radikal abgelehnt und moderne Künstler werden diffamiert und lächerlich gemacht. In geheimen Berichten der Berner Kantonspolizei von 1939 heisst es: „Bekannte Maler unseres Landes fänden Klees neue Richtung für sich selber unheilvoll. Sollte sie [...] Fuss fassen, wäre dies eine Beleidigung gegen die wirkliche Kunst, eine Verschlechterung des guten Geschmacks und der gesunden Ideen der Bevölkerung.“

Klees Wunsch, „Bürger“ seines „eigentlichen Heimatortes“ zu werden, bleibt ihm verwehrt. Der Berner Gemeinderat will am 5. Juli 1940 definitiv über eine Einbürgerung entscheiden, doch Paul Klee stirbt am 29. Juni 1940 in Muralto bei Locarno. Paul Klee fühlt sich sowohl zur deutsch-schweizerischen als auch zur deutschen Kultur zugehörig; er identifiziert sich sowohl mit westlicher als auch mit östlicher Literatur und Philosophie; er eignet sich einen bürgerlichen Habitus an und ist ein führender Repräsentant der antibürgerlichen Avantgarde; er sucht als Künstler die Grossstadt und sehnt sich als Bürger nach der Kleinstadt; er bekennt sich zu keiner Religion, nennt sich aber Christ; er macht keine politische Kunst, aber einige seiner Werke enthalten – verschlüsselt – politische und sozialkritische Botschaften; er ist kein Schweizer Bürger, und ein Deutscher will er – am Ende seines Lebens – nicht sein.

Dieses «Sowohl-als-Auch» wie auch das «Weder-Noch» sind für Paul Klee typische Charakterzüge seiner Partizipation an kollektiven Identitäten. Er definiert sich sehr oft über eine subjektiv definierte «bedingte Zugehörigkeit» ohne klare Verbindlichkeit. Damit macht er sich nach den Worten des Soziologen Alfred Schütz (1972) zu einem kulturellen Bastard, an der Grenze von verschiedenen Mustern des Gruppenlebens. Diese Form der Zugehörigkeit zu einem Kollektiv sei durch eine wechselseitige «zweifelhafte Loyalität» gekennzeichnet.

Rosalina Battiston ist Journalistin und studierte Soziologie, Kunstgeschichte und Volkswirtschaft an der Universität Bern. Grundlage für den Artikel bildet ihre Fachprogrammarbeit (2003): »Wa(h)re Kunst macht sichtbar. Die Selbst(er)findung des Paul Klee«.

Literaturauswahl:

Klee, Felix (Hg.) (1979): Tagebücher von Paul Klee 1898 – 1918. Köln: Dumont.
Klee, Felix (Hg.) (1979): Paul Klee – Briefe an die Familie 1893 – 1940. Zwei Bände. Köln: Dumont.
Meuter, Norbert (1995): Narrative Identität. Stuttgart.
Schütz, Alfred (1972): Der Fremde. Ein sozialpsychologischer Versuch. In Ders.: Gesammelte Aufsätze II: Studien zur soziologischen Theorie. Den Haag: Martin Nijhoff.
Thurn, Hans Peter: Kunst als Beruf. In: Gerhards, Jürgen (Hg.) (1997): Soziologie der Kunst. Produzenten, Vermittler und Rezipienten. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Werckmeister, Otto Karl: Sozialgeschichte von Klees Karriere. In: Paul Klee Stiftung (Hrsg) (2000): Paul Klee – Kunst und Karriere: Beiträge des internationalen Symposiums in Bern. Bern: Stämpfli.
Willems, Herbert / Hahn, Alois (Hg.). (1999): Identität der Moderne. Frankfurt a. M.:Suhrkamp.

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«The sick person is, by definition, in some respect disabled from fulfilling normal social obligations, and the motivation of the sick person as being or staying sick has some reference to this fact.»

Talcott Parsons (1951) in: American Journal of Orthopsychiatry