soziologie.ch

 
  • Increase font size
  • Default font size
  • Decrease font size
soziologie.ch soz:mag#8 "die 'frau' oder den 'mann' gibt es realiter überhaupt nicht."

"die 'frau' oder den 'mann' gibt es realiter überhaupt nicht."

E-Mail

Dr. Paula-Irene Villa ist begeisterte Tango-Tänzerin, MTV-/VIVA-Konsumentin und Club-Gängerin. Als Assistentin an der Universität Hannover beschäftigt sie sich mit Körper- und Geschlechtersoziologie, Sozialkonstruktivismus und sozialer Ungleichheit. Im Gespräch für das soz:mag gibt sie einen Vorgeschmack auf das inter-universitäre Kolloquium zum Thema Körpersoziologie (siehe Kasten auf S. 42), welches Ende November in Bern stattfindet. In welcher Beziehung steht der Körper und das Soziale? Inwiefern lassen sich die beiden Sphären überhaupt trennen? Und wer vollzieht diese Trennung? Paula-Irene Villa über die Bedeutung des Körpers in der Soziologie, die Konstruktion von Geschlechterdifferenzen und den ideologischen Kampf gegen ‚dicke' Menschen.

SOZ-MAG Interview: Barbara Meili und Iris Graf

Frau Villa, was geht eigentlich die SoziologInnen der Körper an – dafür sind doch die BiologInnen zuständig?!

Das hat die feministische Wissenschaft in grossen Teilen auch lange gedacht – und viele Menschen denken das immer noch; dass nämlich der menschliche Körper Teil der ‚Natur’ sei und deshalb die Sozial- und Geisteswissenschaften nichts angehe. Das hat im Übrigen auch die Soziologie – bis auf einige wichtige und bereits frühe Ausnahmen – so gesehen. Bei allen scheint das Descart’sche Leitmotiv durch, wonach Körper und Geist getrennte Sphären seien. Bis zu den Anfängen der Neuzeit, also bis ins späte 18. Jahrhundert, reicht die für uns heute selbstverständliche Trennung von Natur und Kultur zurück. Doch die Trennung zwischen Naturwissenschaften und Kulturwissenschaften (bzw. Geistes- oder Sozialwissenschaften) ist, wie viele andere ‚selbstverständliche’ Grenzziehungen auch, eine von Menschen gemachte, eine historisch gewordene Unterscheidung. Und daher ist es soziologisch ausserordentlich interessant zu fragen, wer wann, warum und mit welcher Wirkmächtigkeit sagt, dass eine Sache zur ‚Natur’ gehört und eine andere zur ‚Kultur’.

Zudem reicht ein flüchtiger Blick in den Alltag, um zu sehen, dass Menschen immer körperlich agieren, immer körperlich existieren. Menschen sind nie nur abstrakte Akteure, nur kognitiv abwägende Entitäten des Sozialen. Sie fühlen, sehen, schmecken, riechen, leiden, erleben; kurz, Menschen existieren in und mit ihrem Körper und nehmen die ganze Welt, eben auch die anderen Menschen körperlich bzw. leiblich wahr. Und da Menschen grundsätzlich soziale Wesen sind, ist die körperliche Dimension ihrer Existenz auch eine vergesellschaftete. Die Formung und der Einsatz der Sinne zum Beispiel sind keine von der sozialen Existenz abgetrennte Dimensionen der Wirklichkeit. Im Gegenteil: Auch die Sinne und ihre subjektive ‚Nutzung’ sind Teil der sozialen Welt. Wenn ich dieses Interview gebe, bin ich nicht irgendein ominöser, abstrakter ‚Geist’, sondern ein Mensch, dem vielleicht kalt ist, der Kopfschmerzen hat, dem es Lust bereitet, über geschickte Antworten nachzudenken. Wenn die Leserinnen und Leser diesen Text lesen, werden auch sie körperlich damit umgehen – vielleicht haben sie Hunger, vielleicht sind sie müde, vielleicht blättern sie gelangweilt weiter, vielleicht werden sie neugierig, gar aufgeregt…?

Also, um Ihre Frage abschliessend zu beantworten: Selbstverständlich geht der Körper die Biologinnen und Biologen etwas an. Auch die Medizin, die Sportwissenschaft, das Design, die Pflegewissenschaften, die Informatik und andere Disziplinen beschäftigen sich mit dem Körper. Und das ist gut so. Schließlich ist der menschliche Körper eine außerordentlich komplexe, vielschichtige Angelegenheit. Er lässt sich nicht auf eine Dimension reduzieren. Für die Soziologie ist der Körper insofern wichtig, als er in der sozialen Welt eine zentrale Rolle als Bedeutungserzeuger, Bedeutungsträger und Bedeutungsempfänger spielt, um es etwas mechanisch auszudrücken. Wir agieren immer mit und in einem Körper, wir lesen dauernd unseren eigenen und die Körper anderer, um soziale ‚Informationen’ zu erhalten, wir fühlen immer etwas – egal, was wir tun. In der Soziologie ist der Zusammenhang von Fühlen und Tun ein zentraler Aspekt.

Was ist denn das überhaupt: Körpersoziologie?

Wie gesagt hängen Fühlen und Handeln sehr eng zusammen; sie sind in der sozialen Wirklichkeit untrennbar. Wir handeln zum Beispiel in der Universität sicher nicht nur ‚nach Lust und Laune’, aber auch. Und wenn wir es nicht tun, ist auch das eine soziale Realität, die körperlich wirksam ist. Wir üben in diesem Fall Selbstkontrolle und Selbstdisziplin aus, die uns ihrerseits gewisse Gefühle bzw. leibliche Affekte bescheren: Erfolg, Anerkennung, Überdruss, Zufriedenheit usw. Zudem wird unser Handeln in starkem Maße von körperlich erzeugten oder körperlich wirksamen Bedingungen gerahmt. So ist – darauf hat Bourdieu immer wieder hingewiesen – der Habitus des Menschen auch als ‚Hexis’ real. Das heisst, die Ausbildung einer habituellen Disposition entlang des sozialen Feldes, zu dem man gehört, hat auch leibliche Dimensionen. Sozialisation und Lernen im Allgemeinen findet sehr stark auch präreflexiv, mimetisch, leiblich statt. Darauf zielen zum Beispiel empirische Arbeiten des Kollegen Thomas Alkemeyer ab, der Lernprozesse in Schulen daraufhin analysiert, was Schülerinnen und Schüler im Klassenzimmer genau tun. Und dieses Tun ist, wie gesagt, auch immer körperlich. Eine andere Kollegin, Karin Flaake, geht in ihren soziologisch-psychoanalytischen Studien zur Adoleszenz junger Frauen auf die absolut wichtige Rolle der leiblichen Sozialisation ein. Damit eröffnet sie der Jugendsoziologie und der Geschlechterforschung ganz neue Zugänge. Dasselbe gilt für Gabriele Klein, die in ihren Arbeiten zu Subkulturen wie Techno oder Hip Hop auf die tragende Rolle des Körpers in der Bildung und im ‚Funktionieren’ von Subkulturen hinweist und sie deshalb auch als ‚Bewegungskulturen’ bezeichnet.

Die Körpersoziologie ist inhaltlich und methodisch ebenso breit wie die Soziologie im Allgemeinen. Es gibt gesellschaftstheoretische Zugänge, die sich durchaus auf Marx beziehen können. Marx hat in den „Feuerbach-Thesen“ in bester materialistischer Absicht auf die Verhaftung des Geistes mit Materie hingewiesen oder – an anderer Stelle – auf die physische Wirklichkeit von Ausbeutung. Norbert Elias und Michel Foucault haben jeweils systematisch zur zentralen Rolle des Körpers in historischer Perspektive gearbeitet und damit sozialen Wandel als auch körperlichen Prozess beschrieben. Daran knüpfen heute viele Körpersoziologinnen und -soziologen an. Die Arbeiten von Barbara Duden [1] bilden Meilensteine bei der soziologischen Historisierung des Körpers. Georg Simmel hat sehr anregende Texte zur Formung der Sinne geschrieben sowie zur Bedeutung von Nähe und Distanz zwischen Körpern in der modernen Großstadt. Die Kultursoziologie knüpft auch hier an. Die so genannte ‚Mikro-Soziologie’ hat im Rahmen der Analyse von Interaktionen viel zur Beachtung des Körpers beigetragen, so z.B. Harold Garfinkel oder Erving Goffman. Garfinkel hat in seinen berüchtigten ‚Krisenexperimenten’ die tragende Rolle des Körpers bei der Aufrechterhaltung sozialer Ordnung durch Handlungen nachdrücklich klar gemacht. Sie können das ja spontan ausprobieren: Agieren Sie beim Lesen dieses Interviews mit ihrem Körper mal bewusst anders als ‚normal’ und ‚sozial angemessen’: Lesen Sie das Interview in der Cafeteria sehr laut vor, stellen Sie sich dazu auf den Tisch; treten Sie sehr nah an eine Ihnen unbekannte Person heran, reagieren Sie nicht auf Anreden durch andere, kleiden Sie sich in ‚Gala’. – Sie werden hautnah erleben, wie sehr die soziale Normalität auf den ‚richtigen’ Einsatz von Körpern angewiesen ist und wie sehr die Normen des Handelns körperlich generiert werden!

Die Körpersoziologie profitiert aber auch von Nachbardisziplinen, wie der Anthropologie und der Philosophie. In diesem Zusammenhang ist die Phänomenologie besonders prominent. Gesa Lindemann hat sie im deutschsprachigen Raum für die Geschlechterforschung fruchtbar gemacht. Sie hat mit Plessner, Merleau-Ponty, Husserl und Schmitz auf den Zusammenhang von (sozialem) Sein und Fühlen nachdrücklich hingewiesen. Überhaupt ist die Frauen- und Geschlechterforschung – auch und gerade die feministischen Zugänge – zentral für das heterogene Feld der Körpersoziologie. Denn die feministischen Perspektiven haben die alltagsweltlichen Grenzen zwischen Natur und Kultur fulminant in Frage gestellt und als Ideologien entlarvt. Der Slogan „Mein Bauch gehört mir“ bringt das Politikum des Körpers auf den Punkt. Heute geht es der Geschlechterforschung darum, die soziale Wirklichkeit des Geschlechts als zugleich sozial konstruiert und als gefühlte Tatsache zu analysieren. Dazu müssen sehr viele Aspekte – Kleidung, Sprache, Diskurse, historische Aspekte, institutionelle Einbettung, Biographie, Region, Sexualität, usw. – berücksichtigt werden. Und darum ist die Körpersoziologie so spannend.

Sie sind leidenschaftliche Tango-Tänzerin und MTV-Konsumentin: Verbirgt sich dahinter ein wissenschaftliches Interesse am Körper?

(Schmunzelt) Jein. Zunächst nicht; ich bin in der Tiefe meines Herzens ein Pop-Fan und ein in einem erwachsenen Körper gefangenes Teenie, das sich einfach gerne Clips anschaut und zu guten Grooves tanzen geht. Tango habe ich angefangen, weil mich Freunde dazu animiert haben und mich das Tango-Tanzen aus vielen Gründen absolut begeistert hat. Das war einige Zeit bevor ich mich wissenschaftlich mit dem Körper beschäftigt habe. Andererseits ist mir schon früh in der Tango-Szene (zunächst negativ) aufgefallen, dass sehr viele Tangotänzerinnen und -tänzer die Trennung von Körper und Geist intensiv betreiben, indem sie sagen, sie tanzen Tango als ‚Gegengewicht’ zu ihrem normalen Leben. Dieses ‚normale Leben’ stellen sehr viele Leute in der Tango-Szene als verkopft, vergeistigt, unkörperlich dar. Ich fand, dass beides nicht stimmt: Weder ist der Alltag inklusive beruflicher Routinen körperlos, noch ist das Tango-Tanzen ‚kopflos’. Als ich mich, von der feministischen und soziologischen Theorie her kommend, mit dem Körper beschäftigte, fand ich in der Soziologie nach und nach Werkzeuge, die mir mein Unbehagen und überhaupt meine Erfahrungen in der Tango-Szene verstehen und erklären halfen. Das hat zu einer wechselseitigen Beeinflussung meines Tango-Tuns und meines Wissenschafts-Tuns geführt, die sehr bereichernd, manchmal aber auch schmerzhaft und konfliktreich ist.

In Ihrem Buch „Sexy Bodies“ hinterfragen Sie die Natürlichkeit des Geschlechts. Die meisten Menschen halten Unterschiede zwischen den Geschlechtern aber für offensichtlich – wie kommt man auf die Idee, daran zu zweifeln?

Indem man einen zweiten Blick auf den Alltag wirft. Hedwig Dohm, eine der Protagonistinnen der ersten Frauenbewegung in Deutschland, hat in einer wunderbaren Schrift die frauenfeindlichen ‚Pastoren’ dazu aufgefordert, einen genaueren Blick auf Männer und Frauen zu werfen. Dann würden sie schon sehen, dass auch Männerhände Babys wickeln können und dass auch Frauen harte körperliche Arbeit ausführen – alles eine Frage der Übung oder der Notwendigkeit. Sie hat damit das getan, was auch ich tue und was all diejenigen machen, die die ‚Evidenz der Geschlechterdifferenz’ anzweifeln, nämlich differenziert und möglichst vorurteilsfrei hinsehen. Dann entdeckt man, dass es ‚die Frau’ oder ‚den Mann’ realiter überhaupt nicht gibt. Dann sieht man, dass all die Unterschiede zwischen den Geschlechtern im besten Falle Idealtypen, üblicherweise Stereotypen und im schlechtesten Falle plumpe Ideologie sind. Männer und Frauen sind untereinander so verschieden, dass die Unterschiede zwischen ihnen zumindest relativiert werden. Körperlich gibt es zum Beispiel Menschen mit und Menschen ohne Gebärmutter – welche davon sind Frauen, welche Männer? Es gibt Menschen, die menstruieren und solche, die es nicht tun. Wissen Sie aufgrund dieser Information zuverlässig, ob es sich um Frauen oder Männer handelt? Es gibt Menschen, die die 100m in mehr oder minder 10 Sekunden laufen und andere, die das in 15 Sekunden oder 2 Minuten schaffen – welche sind Frauen, welche Männer? Es gibt extrem ehrgeizige, karriereorientierte, beruflich erfolgreiche, anti-pazifistische, kinderlose Frauen mit wenig Sinn für Empathie und Harmonie. Sind sie ‚männlich’? Es gibt alte Menschen pflegende, ehrenamtlich engagierte, verschmuste Väter – sind sie ‚weiblich’? – Ja und Nein. An der Offensichtlichkeit der Geschlechterdifferenz zu zweifeln heißt ja nicht, sie als soziale Wirklichkeit zu leugnen. Interessant ist vielmehr, wie die Geschlechterdifferenz als soziale Tatsache gemacht wird – und wie es dazu kommt, dass sie als naturhaft wahrgenommen wird. Für diese Konstruktion wird auf allen Ebenen viel Aufwand betrieben. Nicht umsonst gibt es die so genannten ‚Frauen- und Männerzeitschriften’ wie Cosmopolitan oder Men’s Health. Nicht umsonst zupfen und rasieren sich Männer und Frauen die Haare an unterschiedlichen Stellen. Nicht umsonst sprechen Männer und Frauen je nach Kontext laut oder leise, zurückhaltend oder aufdringlich. Dieses „je nach Kontext“ ist in der Geschlechterforschung im Übrigen sehr wichtig. Denn das Geschlecht kommt ja nie allein daher. Menschen sind immer ein Geschlecht und vieles andere mehr. Und zwar zugleich. Die geschlechtliche Wirklichkeit von Menschen kann nie von anderen Aspekten des sozialen Seins abgetrennt werden, wie z.B. von der Klassen- oder Milieuzugehörigkeit, dem Alter, der Nationalität, vom Status in einer Institution usw. Diese Vielfachzugehörigkeit der Menschen relativiert die Offensichtlichkeit der Geschlechterdifferenz auch.

Warum ist es immer wichtiger, gesund, schön und sexy zu sein?

Ich bin mir gar nicht sicher, ob das heute wirklich wichtiger ist als früher. Unter anderen Foucault und Elias haben darauf hingewiesen, dass die Orientierung an Schönheits- oder Gesundheitsnormen (die ja oft deckungsgleich sind, d.h. gesund ist schön bzw. schön bedeutet gesund) für Menschen immer schon eine Rolle gespielt hat. Soziale Ordnung ist nicht erst seit heute in starkem Maße davon abhängig, dass Menschen ihre Körper in den Dienst solcher Herrschaftsnormen stellen – oder widerspenstig und eigensinnig gegen sie rebellieren. Auch Hexenverbrennungen oder die Inhaftierung schwuler Männer sind Herrschaftstechniken, die sich an ‚ungesunden’, ‚abartigen’, ‚perversen’, ‚hässlichen’ Körpern vollzogen. Was sich sehr wohl ändert, sind die spezifischen Kodierungen von schön, gesund, sexy. Diese hängen ab von strukturellen Bedingungen wie wirtschaftlichen oder politischen Strukturen. Was als schön oder gesund gilt, ist heute sicher anders als vor 50, 100 oder 300 Jahren. Heute beispielsweise erleben wir einen hoch ideologischen Kampf gegen ‚dicke’ Menschen. Ich finde es erschütternd, wie insbesondere ‚dicke’ Kinder in den Medien als Monster inszeniert werden, die uns – und das scheint das Schlimmste zu sein – alle (angeblich!!) viel Geld kosten. Ähnliches gilt für Raucherinnen und Raucher oder für Menschen, die keinen Sport treiben. ‚Dicke’, rauchende oder ‚bewegungsfaule’ Menschen werden als finanzielle Schmarotzer stigmatisiert und in den visuellen Medien zunehmend als abartig inszeniert. Es gibt wirklich groteske Doku-Soaps, die in entwürdigender Weise Kinder dabei filmen, wie sie am Abnehmen scheitern. Was wir erleben, ist eine Zuspitzung von Körpernormen auf das Ökonomische, eine Ökonomisierung des Körperlichen; Krankenkassen zahlen in Deutschland Prämien für Sportaktivitäten, andere berechnen die Beiträge auch danach, ob man raucht oder nicht – der öffentliche Diskurs ist voll von angeblichen wissenschaftlichen Beweisen dafür, dass ‚dicke’ Menschen unglücklich, gefährdet und vor allem teuer für die Allgemeinheit seien.

Diese Ökonomisierung konvergiert offensichtlich mit der Durchdringung sämtlicher Bereiche des Sozialen durch einen marktliberalen ‚Zeitgeist’. Dieser Zeitgeist weht in sehr spezifischer Weise, nämlich individualisierend und entsolidarisierend. Demnach ist Jeder und Jede seines oder ihres Glückes Schmied, jeder Mensch eigentlich eine Ich-AG in jeglicher Hinsicht. Jeder Mensch muss sein oder ihr ‚Risiko managen’, sei es bei pränatalen Gentests, bei der Rentenversicherung, bei der Ausbildung oder beim Liebesglück (hierzu haben Silja Samerski und Barbara Duden übrigens anregende Arbeiten verfasst). So gesehen, sind die derzeitigen Codes für Schönheit, Gesundheit oder Attraktivität von einer individualisierten Selbst-Beherrschung sondergleichen geprägt. Vor unseren Augen formiert sich eine neue Ausprägung der Foucault’schen Bio-Politik, die den Menschen zumutet, an sich selbst zu arbeiten, um überhaupt arbeiten zu können. Nur weiß niemand, mit welchem Ziel man oder frau an sich arbeiten soll. Deshalb sind die Normen von Schönheit oder Gesundheit meiner Einsicht nach vor allem auf Flexibilität und Mobilität ausgerichtet. Der Körper soll signalisieren: „Ich bin zu allem bereit. Ich bewege mich dauernd. Ich habe extreme Disziplin.“

Dabei gibt es eine für Feministinnen sehr unangenehme Irritation: Die zweite Frauenbewegung war ja maßgeblich von der Selbst-Kontrolle und Selbst-Ermächtigung von Frauen qua Körper überzeugt. Frauen sollten selber über ihren Körper bestimmen – sei es bei Sexualität, Medizin, Mutterschaft, Nutzung des öffentlichen Raums, Kleidung etc. Wenn Sie sich Medienformate wie „The Swan“ oder „The Making of…“ anschauen, bei denen Frauen unter allerlei Coaching sich selber ‚transformieren’ und ihren Körper dabei als Rohstoff verwenden, dann knüpft dies womöglich auch an diese ehemals herrschaftskritischen Ansprüche an. In „The Swan“ wollen die Frauen ja selber an und mit sich und ihrem Körper arbeiten, um jemand zu werden. Sie lösen sich von einer angeblichen ‚Natur’ und verwirklichen sich. Das ist doch fantastisch, oder? Irgendwie pervers.

Worüber referieren Sie am Soziologie-Kolloquium in Bern?

Ich möchte das breite Feld der Körpersoziologie präsentieren und die verschiedenen Zugänge anhand alltäglicher Beispiele verdeutlichen. Mir geht es dabei vor allem um die Frage, wie ‚Körper von Gewicht’ (Butler) zu solchen werden, d.h. wie Menschen zu sozial anerkannten Subjekten werden, indem auch der Körper dazu eingesetzt wird. Es geht also auch um die Problematik der Grenzen zwischen normal/anormal, gesund/krank, sinnvoll/sinnlos, Subjekt/Objekt, natürlich/sozial, konstruiert/faktisch usw. Die Frage des Geschlechts wird ganz bestimmt auch eine Rolle spielen. Vielleicht gelingt es mir, den einen oder die andere davon zu überzeugen, wie spannend ein zweiter Blick auf scheinbare Selbstverständlichkeiten ist…

Anmerkungen

[1] Wir freuen uns, auch Barbara Duden als Workshopleiterin an unserem Kolloquium begrüssen zu dürfen.

„gesund! schön! sexy! – Soziologische Blicke auf den Körper“

Vom 25.-27. November steht an der Uni Bern der Körper im Rampenlicht! Drei Tage lang wird über den Körper diskutiert, referiert, sinniert – denn dann findet das siebte Kolloquium der Schweizer Soziologie-Studierenden statt. Das Kolloquium ist eine Tagung, die von Studierenden für Studierende organisiert wird und an der einmal abseits vom starren akademischen Rahmen über ein spannendes soziologisches Thema diskutiert werden kann.

Aber warum geht es in diesem Jahr ausgerechnet um den Körper? – Körper werden gepflegt, gekleidet, verhüllt, diskutiert und tabuisiert, sie sind Schnittpunkt verschiedenster Ansprüche und Wünsche – und sie sollen möglichst gesund, schön und sexy sein. Wir fragen nach dem Wie und Warum und erhalten in Vorträgen, Workshops und Diskussionen Antworten von Referierenden aus der Schweiz und aus Deutschland. Neben dem spannenden Tagungsprogramm bleibt auch genügend Zeit, Studierende und Dozierende aus der ganzen Schweiz kennen zu lernen, zu plaudern und zu feiern. Eingeladen sind alle! Weitere Informationen und Anmeldemöglichkeiten findest du im Internet unter » http://kolloquium.soziologie.ch.

Attachments:
FileFile size
Download this file (sozmag_08_interview.pdf)sozmag_08_interview.pdf339 Kb
 

«Savoir pour prévoir et prévoir pour pouvoir.»

Auguste Comte, Leitsatz positivistischer Soziologie