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soziologie.ch soz:mag#3 das permanente provisorium

das permanente provisorium

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Gesundheitszustand und Rechtsstellung von Asyl Suchenden und vorläufig Aufgenommenen

In der Schweiz leben mehrere tausend Flüchtlinge seit Jahren ohne gesicherten rechtlichen Status. Ihre Situation ist geprägt durch Ungewissheit und fehlende Zukunftsperspektive. Der folgende Artikel zeigt auf, dass die oft schon schlechte psychische und physische Verfassung dieser so genannten „Langjährigen“ durch die provisorische Aufenthaltsbewilligung noch verschlechtert wird. Die Frage, inwieweit die Bedingungen im Aufnahmeland gesundheitliche Auswirkungen zur Folgen haben, kann jedoch nicht losgelöst von den Erfahrungen im Heimatland und den migrationsbedingten Stressfaktoren beurteilt werden.

SOZ-MAG Beitrag von Laila Burla

1998 vergewaltigten mehrere Serben die Albanerin S. B. und ihre Schwester. Letztere wurde auf der Flucht von einer Kugel tödlich getroffen. 1999 heiratete Frau B., ihr Ehemann erfuhr jedoch während der Schwangerschaft von der Vergewaltigung und verjagte sie. Den Sohn übergab sie, wie es Sitte ist, nach der Geburt dem Ehemann. Von der Bevölkerung geächtet, versuchte sich die junge Frau in der Folge mehrmals das Leben zu nehmen. Anfangs 2001 reiste sie aus und stellte darauf in der Schweiz ein Asylgesuch. Zwei Jahre später erhielt Frau B. einen negativen Entscheid, der Vollzug der Wegweisung wurde jedoch zu Gunsten einer vorläufigen Aufnahme aufgeschoben.

Langjährige Asyl Suchende und vorläufig Aufgenommene

Frau B. gehört zu denjenigen Flüchtlingen, welche in ihrem Heimatland traumatische Erlebnisse gemacht haben, in der Schweiz aber kein Asyl erhalten, weil sie nach dem schweizerischen Asylrecht die Flüchtlingseigenschaft nicht erfüllen. Ein Teil von ihnen erhält, wie auch Frau B., eine vorläufige Aufnahme (Ausweis F). Diesen Status erhalten jene Asyl Suchenden, deren Gesuch abgelehnt wurde, bei denen aber eine Wegweisung nicht möglich (etwa bei fehlenden Ausweispapieren) oder wie im genannten Fall aus gesundheitlichen Gründen nicht zumutbar ist. Die Aufenthaltsbewilligung ist auf zwölf Monate befristet und wird allenfalls verlängert. Flüchtlinge mit Ausweis F haben weder Anspruch auf Familiennachzug noch auf Integrationsleistungen. Ferner gilt in den ersten drei bis sechs Monaten ein Arbeitsverbot. Die Fürsorgeleistungen sind mit ca. 16 Franken pro Person und Tag rund 40% tiefer als für Schweizer Sozialhilfeempfänger.

Im Gegensatz zu anerkannten Flüchtlingen haben diese Personen also keinen gesicherten Aufenthaltsstatus. Ihre Bewilligung ist provisorisch und kann jederzeit enden. In einer vergleichbaren Lage befinden sich Flüchtlinge, deren Asylgesuch noch nicht entschieden ist und die gemäss dem Asylgesetz als Asyl Suchende (N-Ausweis) bezeichnet werden. Der N-Ausweis berechtigt sie zum Aufenthalt in der Schweiz für die Dauer des Verfahrens. Ansonsten gelten für sie die gleichen rechtlichen Bestimmungen wie für die vorläufig Aufgenommenen.

Die Situation dieser beiden Personengruppen des Asylbereichs ist insofern problematisch, als eine beträchtliche Zahl von ihnen über Jahre hinweg in einem solchen Provisorium lebt. Ende Januar 2002 wohnten zum Beispiel allein im Kanton Luzern 833 vorläufig Aufgenommene und 227 Asyl Suchende, die schon seit über sechs Jahren in der Schweiz sind.

Unter diesen sogenannten „Langjährigen“ befinden sich zahlreiche schwierige Fälle – Personen die, wie Frau B., schreckliche Erfahrungen hinter sich haben und denen es im Exil gesundheitlich schlecht geht. Studien haben gezeigt, dass Asyl Suchende und vorläufig Aufgenommene eine gesundheitlich besonders gefährdete Gruppe darstellen. So wurde im Jahr 1999 die Zahl der schwer traumatisierten Asyl Suchenden für den Kanton Bern auf rund 280 Personen geschätzt. Im gleichen Jahr machten im damaligen Kriseninterventionszentrum des Inselspitals Asyl Suchende beinahe einen Drittel der Patienten aus.

Die schlechte Gesundheitslage von vorläufig Aufgenommenen und Asyl Suchenden lässt sich einerseits auf sogenannt prämigratorische Stressfaktoren, andererseits auf die Lebensbedingungen im Aufnahmeland zurückführen.

Erfahrungen im Heimatland und migrationsbedingte Belastungen

Ein Grossteil der Asyl Suchenden und vorläufig Aufgenommenen hat in ihrem Heimatland Gewalterfahrungen in irgendeiner Art gemacht. Es bestehen darüber keine gesicherten Daten, die Aussage wird aber durch Statistiken bestärkt, welche zeigen, dass die Mehrheit der Gesuchsteller aus Krisengebieten (Kosovo, Angola, Irak, etc.) stammen. Wenngleich diese Flüchtlinge nicht immer persönlich verfolgt wurden, haben sie doch die (in)direkten Folgen von Bürgerkrieg und bewaffneten Konflikten mitbekommen – so ist davon auszugehen, dass die Mehrheit der Kosovoalbaner, welche Ende der 90‘er in die Schweiz kamen, geprägt waren durch die Ereignisse in ihrem Heimatland: Zerstörung, Vertreibung, Hunger, Chaos, ethnische Säuberung, etc.

Zu Gewalterfahrungen am eigenen Leib gehören nebst physischer und psychischer Folter auch Verfolgung, Inhaftierung und Internierung in Konzentrationslager. Verfolgung und Folter sind bei Frauen, wie auch der Fall von Frau B. zeigt, oft mit sexueller Gewalt verbunden. Viele Flüchtlinge wurden zudem Zeugen von Gewalttaten: Sie mussten mit ansehen, wie andere Personen, nicht selten eigene Familienmitglieder oder Freunde, vor ihren Augen ermordet, misshandelt, gedemütigt, verhaftet oder verschleppt wurden. Erfahrene oder beobachtete Gewalt stellen äusserst traumatische Erlebnisse dar und haben in den meisten Fällen körperliche, psychische und soziale Folgen für die Betroffenen.

Flüchtlinge leiden zudem auch an den allgemeinen migrationsbedingten Stressfaktoren. Kulturübergreifende Migration führt zu Entwurzelung. Durch den Wechsel des sozialen Bezugssystems kommt es zu einem Bruch mit der bisherigen Lebenswelt. Migration ist immer verbunden mit einem Abschiednehmen von Gewohntem und Vertrautem: dem sozialen Netz, der Sprache, der Kultur, den Wert- und Glaubensvorstellungen, dem sozialen Status, etc. Der Zustand der erlebten Sinn- und Orientierungslosigkeit wird dadurch verstärkt, dass das im Heimatland erworbene Wissen über Werte, soziale Normen und Rollen im neuen gesellschaftlichen Bezugssystem nicht mehr tauglich ist – das „Denken-wie-üblich“ (Alfred Schütz, 1972) erweist sich als unwirksam. Der Verlust der Kommunikations- und Handlungskompetenz kann mit einer Desozialisation verglichen werden.

Asyl Suchende und vorläufig Aufgenommene müssen sich also an die neue Umwelt anpassen, mit ihren Verlust- und Entwurzelungsgefühlen fertig werden und zugleich noch ihre Erlebnisse im Heimatland und während der Flucht verarbeiten.

Postmigratorische Stressfaktoren

Die Bedingungen im Aufnahmeland, allen voran die gesetzlichen Bestimmungen, haben einen bedeutenden Einfluss auf die gesundheitliche Verfassung von Asyl Suchenden und vorläufig Aufgenommenen. Die Situation der Langjährigen zeichnet sich durch das jahrelange Verbleiben in einem provisorischen Status aus.

Die knappen Fürsorgeleistungen - aber auch die Unterbringung - werden mit der Zeit zu einer Belastung, bleibt doch von den ca. 16 Franken nicht viel übrig für persönliche Ausgaben. Dazu kommt noch die erzwungene Untätigkeit, da gesetzliche Regelungen das Ausüben einer Erwerbstätigkeit erschweren und Beschäftigungsprogramme sehr beschränkt sind. Aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustandes haben traumatisierte Personen oftmals keine Chance einer Beschäftigung nachzugehen. Eine Tagesstruktur wäre aber für sie insofern von zentraler Bedeutung, als eine regelmässige Arbeit einen stabilisierenden Effekt auf die psychische Verfassung der Betroffenen hat und die Reaktivierung der Ressourcen fördert. Dadurch können auch Chronifizierungen bestehender Störungen und die Bildung neuer Beschwerden vorgebeugt werden.

Besonders schwierig für die Asyl Suchenden und vorläufig Aufgenommenen ist die Ungewissheit, welche mit der provisorischen Aufenthaltsbewilligung einher geht. Die Angst vor einer Wegweisung und die fehlende Zukunftsperspektive sind psychisch sehr belastend. Gerade die Verarbeitung von traumatischen Erlebnissen ist aufgrund der fehlenden Sicherheit nur schwer möglich. Therapeutische Massnahmen versuchen primär zu verhindern, dass die Bedingungen im Exil zu einer Verschlechterung resp. Chronifizierung der Beschwerden führen. Psychosoziale Stabilität der Betroffenen bzw. das Auffangen der durch den unsicheren rechtlichen Status bedingten Stressfaktoren wird angestrebt, nicht eine Behandlung der eigentlichen Traumata.

Hilfe von vereinzelten Einrichtungen

Kommunikations- und Interaktionsprobleme stellen für Asyl Suchende und vorläufig Aufgenommene eine grosse Barriere im Hinblick auf die Inanspruchnahme des Gesundheitssystems dar und gelten als Hauptursache für Diagnose- und Behandlungsschwierigkeiten. Insbesondere bei psychischen und psychosomatischen Störungen ist deswegen oftmals keine adäquate Behandlung realisierbar. In der Schweiz besteht im Gesundheitsbereich kein Recht auf Übersetzung – unterdessen gibt es aber zahlreiche, meist von Hilfswerken lancierte Vermittlungsstellen für Dolmetscher.

Abgesehen von Kommunikationsbarrieren bestehen für traumatisierte Asyl Suchende und vorläufig Aufgenommene nicht genügend spezifische Angebote und Therapiemöglichkeiten. Das Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer des Schweizerischen Roten Kreuzes in Bern beispielsweise nimmt nur anerkannte Flüchtlinge auf, weil sie davon ausgehen, dass Menschen erst dann für eine Therapie bereit sind, wenn ihr Aufenthaltsstatus gesichert ist.

Viele der Traumatisierten sind nicht in der Lage, die Gegenwart zu bewältigen. Sie brauchen deshalb eine intensive psychosoziale Betreuung, die unter anderem Beratung und Begleitung im Alltag mit einschliesst. In der Schweiz gibt es jedoch nur vereinzelte Einrichtungen, welche auf die besonderen Bedürfnisse von traumatisierten Asyl Suchenden und vorläufig Aufgenommenen ausgerichtet sind.

Die paradoxe Situation

Wenngleich die Bedingungen im Exil nicht direkt traumatisch sind, so kumulieren sie sich doch mit den prämigratorischen Stressfaktoren und können einen verstärkenden Effekt auf psychische Störungen haben.

Das paradoxe an der Situation von Flüchtlingen wie Frau B. ist, dass sie vielfach eine vorläufige Aufnahme aufgrund ihrer schlechten Verfassung erhalten haben. Eine Verbesserung ihres Gesundheitszustandes würde folglich die Aufhebung ihres Status bzw. eine Wegweisung zur Folge haben: ein Teufelskreis. Dass in einer solchen Aussichtslosigkeit keine psychische Stabilisierung möglich ist, leuchtet ein.

Die Rechtsstellung der vorläufig Aufgenommenen und die der Asyl Suchenden sind als Übergangsregelungen gedacht und sind nicht darauf ausgerichtet, dass Flüchtlinge jahrelange in diesem Provisorium verbleiben. Dies widerspiegelt sich auch in der Regelung, welche besagt, dass für vorläufig Aufgenommene und Asyl Suchende keine Integrationsleistungen vorgesehen sind – Sprachkenntnisse und Erwerbstätigkeit sind aber Bedingungen für den Erhalt einer Aufenthaltsbewilligung (B-Ausweis), welche heute nach acht bis zehn Jahren beantragt werden kann. Diese Regelung trifft insbesondere traumatisierte Personen, welche infolge „mangelnder Integration“ – bedingt durch ihren schlechten Gesundheitszustand – nahezu keine Chance auf eine Besserung ihres rechtlichen Status haben.

Die Bestimmungen haben abgesehen vom Leid, welches die Betroffenen durch dieses System erfahren, auch hohe Kosten im Gesundheitsbereich zur Folge. Es ist zu hoffen, dass mit der nächsten Teilrevision des Asylgesetzes und der Einführung der „integrativen Aufnahme“ zumindest ein kleiner Schritt zur Verbesserung der Situation von Langjährigen erfolgen wird.

Laila Burla studiert Soziologie, Geographie, Ethnologie und Psychologie in Bern. Sie ist als Hilfswerksvertreterin (neutrale Beobachterin bei Flüchtlingsbefragungen) bei Caritas tätig. Der Artikel basiert auf Ihrer Fachprogrammsarbeit „Asyl Suchende und Gesundheit“.

Literaturauswahl

Asyl-Organisation für den Kanton Zürich (1999): Überlebenskunst in Übergangswelten: ethnopsychologische Betreuung von Asylsuchenden. Berlin: Reimer Verlag.
Verwey, Martine (Hg.) (2001): Trauma und Ressourcen. Berlin: Verlag für Wissenschaft und Bildung (VWB).
Moser, Catherine; Doris Nyfeler und Martine Verwey (Hg.) (2001): Traumatisierungen von Flüchtlingen und Asyl Suchenden: Einfluss des politischen, sozialen und medizinischen Kontextes. Zürich: Seismo.
Wicker, Hans-Rudolf; Daniel Bielinski und Barbara Katona (1999): Die Gesundheitsversorgung von Asylsuchenden im Kanton Bern. Bern.

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«Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.»

Karl Marx und Friedrich Engels (1990): Werke . Berlin: Dietz. Bd. 13, S. 8-9.