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soziologie.ch soz:mag#3 «die gegenwart mit geschichte erklären»

«die gegenwart mit geschichte erklären»

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«Die Gegenwart mit Geschichte erklären»

Caroline Arni (33) ist Soziologin und Historikerin. Und umgekehrt. Die bevorzugten Forschungsfelder der frisch gebackenen Doktorin sind Paarbeziehungen und Liebe in der Moderne sowie die gesellschaftliche Entwicklung feministischen Denkens. Im Laufe der vergangenen zwei Jahre war Caroline unter anderem als Doctorante-visiteur an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris, hat als Dozentin am Interdisziplinären Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung der Uni Bern gearbeitet und wohnte als Gast am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (D) der Studiengruppe „Love & Europe“ bei. Jetzt hat sie das Institut für Soziologie der Uni Bern wieder, wo sie vorher schon Hilfsassistentin und Assistentin gewesen ist. Im Gespräch erhellt Caroline ihr Selbstverständnis als Forscherin, erläutert das Problem der Fortschrittsmentalität für unser Geschichtsbild, wägt „doing gender“ und Hormone gegeneinander ab, fragt nach der Privatisierung des Feminismus, schildert die Geburt des Geissenpeters und gibt ihre Pläne bekannt: Schauen, wie Gefühle gesellschaftlich codiert sind.

Interview und Photos: Denis Hänzi

Du warst die letzten zwei Jahre viel unterwegs, hast deine Dissertation geschrieben und bist nun als Assistentin ans Institut zurückgekehrt. Welche Projekte hast du hier?
Also einerseits habe ich weiter meine eigenen Forschungsprojekte, das eine kleine zum Liebesdiskurs um 1900, ein anderes zur historischen Soziologie des feministischem Denkens im Zusammenhang mit der Herausbildung der Humanwissenschaften im 19. Jahrhundert. Andererseits werde ich natürlich Lehre machen. Gerade die Lehre habe ich in den vergangenen zwei Jahren sehr vermisst. Die macht für mich einen grossen Teil des Reizes aus.

Was willst du denn lehren? Was ist geplant?
Ein Seminar über Emotionen beispielsweise. Entweder gibt es etwas über Emotionen, oder etwas zu Paarbeziehungen... (Carolines Mobiltelefon klingelt: Strangers in the Night. Sie fischt das Gerät aus der Tasche, stellt es ab und fährt fort:) ... ein Seminar über Emotionen. Soziologie der Emotionen. Aber vielleicht wird es auch mehr ein Seminar über Paarbeziehungen. Das hat dann auch damit zu tun, was ich in der Dissertation gemacht habe.

Das wäre?
Der Titel lautet „Ehe, Paare - Krisen der Geschlechterbeziehung um 1900“. Anhand von Scheidungsprozessen aus den 1910er Jahren habe ich narrative Fall-studien gemacht. Dabei habe ich diese Paarbeziehungen rekonstruiert: Was bedeutete „Paarbeziehung“ damals überhaupt, zum Beispiel im Hinblick auf die Frage: was ist Liebe? So eine Art Deutungsmusteranalyse auf der Ebene von Alltagstheorien. Andererseits habe ich die Beziehungskrisen nachgezeichnet. Was hat da zum Bruch geführt? Und das natürlich historisch spezifisch und nach Klassen: Bildungsbürgertum, kaufmännische Angestelltenschaft - also neue Mittelschicht -, Arbeiterschaft und schliesslich das sozialistisch-intellektuell-revolutionär-avantgardistischen Milieu. Um 1900 herrschte ein intensiver Diskurs über Ehe, Scheidung, egalitäre Beziehungen und so. Da gab es viele visionäre Entwürfe. Der Fall aus dem sozialistisch-intellektuellen Milieu hatte beispielsweise einen Entwurf einer nicht-patriarchalen, anti-bürgerlichen Beziehung.

Worauf zielt dein Erkenntnisinteresse dabei genau?
Du meinst meine intellektuelle Libido?

Ja: Was nimmt dir den Ärmel rein? Sind es die konkreten Ehen, die Leidensgeschichten der einzelnen Paare, also die mikrosoziologische Ebene? Oder die spezifischen gesellschaftlichen Umstände dieser Zeit, also die allgemeinen Orientierungsmuster und historisch gewachsenen Strukturen und Institutionen?
Es ist die Verschränkung dieser beiden Ebenen, die mich am meisten interessiert. Diese Mikrosachen, also ganz im Kleinen: was etwa der Herr soundso und die Madame soundso zusammen gemacht und unterlassen haben. Es ist spannend, solche Geschichten neu zu erzählen. Aber man darf nicht dort stehen bleiben. Es geht dann darum, den strukturellen Zusammenhang zu beleuchten, aus dem Besonderen der konkreten Paargeschichten das Allgemeine der Gesellschaft zu erschliessen.

Deshalb der qualitative Ansatz?
Genau. Du kannst im einzelnen Fall die Funktionsweisen von sozialen Strukturen und historischen Prozessen auffinden. Es ist eine Wechselwirkung. Wenn zunehmend individuelle Frauen finden: Ich will jetzt verdammt noch mal eine egalitäre Beziehung und nicht einen Mann, der das Gefühl hat, er könne mich herumkommandieren, dann ist das massiv wichtig für die Strukturen der Gesellschaft. On the long run.

Als Voraussetzung für Veränderungen?
Genau. Ja. Sonst kann du Wandel eigentlich nicht erklären. Mich interessiert einfach diese Verschränkung. Das Handlungs- und Struktur-Problem.

«Ein Stück weit musst du dran glauben, dass du handlungsfähig bist.»

Wie siehst du dich denn dabei selbst, als Forscherin? Wie sehr verstehst du deine eigene Arbeit als historisch - also sozial - bedingt?
Meinst du, ob ich mich als autonomes Subjekt sehe? Da muss man aufpassen. Ein Stück weit ist ja Soziologie immer auch Aufklärung über die eigenen Bedingungen. Man will auch etwas über sich selbst erfahren und gleichzeitig über die Gesellschaft, in der man steckt. Im Sinne von Bourdieus Konzept des Habitus: Ich komme zum Beispiel nicht aus einer Akademikerfamilie...

...sondern?
Mittelstand. Ich bin einfach die erste - also einzige - Aka-demikerin weit und breit in der Verwandtschaft. Das heisst nach Bourdieuschen Kategorien: Ich bringe schon ein gewisses Handicap mit. Dann bin ich auch noch eine Frau.

Bist du sicher, dass du damit ein Handicap mitbringst?
Jein. Also, wenn ich die Statistiken anschaue und dazu noch qualitative Habitusdinge nehme, ja, dann bringe ich ein gewisses Handicap mit. Wie souverän oder nicht souverän bewege ich mich in diesem akademischen Feld? Wieviele Chancen habe ich, anerkannt zu werden, keine ‚Fremde’ zu sein in diesem Feld?

Und wenn man davon ausgeht, dass dieses Feld selbst gewissen Transformationen unterliegt...
...natürlich...

...dann passt du mit deinem Habitus ja vielleicht doch ganz gut in dieses Feld?
Ich könnte einerseits sagen: Also komm, du kannst es ja versuchen, aber schlussendlich sind die Aussichten nicht so wahnsinnig. Oder aber, worauf Du eben hingewiesen hast: Das Feld verändert sich auch. Schliesslich spielen auch Zufälle eine grosse Rolle. In diesen Dingen musst du dir ein Stück Freiheit bewahren. Ein Stück weit musst du wirklich dran glauben, dass du handlungsfähig bist. Sonst machst du nichts mehr. In der Geschichte wie auch in der Soziologie ging es ja in den letzten Jahren darum, die Handlungsfähigkeit des Subjekts zu behaupten, ohne gleichzeitig das autonome Subjekt zu postulieren.

Jetzt bist du auf der wissenschaftlichen Ebene.
Ich würde sagen, das ist auch sehr praktikabel für das Leben. So kann man irgendwie funktionieren. Man darf das eigene Zeug nicht allzu wissenschaftlich sehen. Vielleicht muss man auch einfach eine Spannung aushalten können, zwischen Wissen-Wollen und Bescheidenheit. Bei den Geschichten meiner Paare beispielsweise sage ich mir schlussendlich auch, dass ich sie nicht restlos aufklären kann. Das hat vielleicht damit zu tun, dass ich als Historikerin faktisch mit Toten arbeite. Da musst du auch eine ethische Haltung haben. Nicht weil sie tot sind, aber weil sie deiner Interpretation nichts entgegenhalten können. Die können nicht einfach kommen und sagen: Sorry, ich sehe das anders.

Siehst du das als ein Problem deiner Art von Forschung?
Nicht als Problem. Du kannst nie ein vollständiges Wissen haben. Du gehst ja nicht von einem neutralen Standpunkt aus.

«Dann bin ich auch noch eine Frau.»

Was würdest du denn davon halten, wenn man aus diesem Grund jeder wissenschaftlichen Arbeit eine Präsentation, eine Einbettung seiner Selbst vorausschicken müsste?
Zu den Postulaten der sogenannten feministischen Methodologie Anfang der 80er Jahre zählte, dass man gesagt hat: Am Anfang wird der eigene Standpunkt geklärt. Also: Ich sage, wo ich stehe, was ich mit diesem Thema am Hut habe. Bin ich eine weisse Frau? Bin ich eine schwarze Frau? Bin ich eine Unterschichtsfrau? Bin ich eine Bürgertumsfrau? Und so weiter. Das war so ein Postulat. Mir ist das zu platt. Es wirkt so ein bisschen wie ein Bekenntnis-Mantra.

Was heisst das?
Man muss sich irgendwie selber in eine Schublade tun. Mich interessiert ja schon, wer die Leute sind, die dieses oder jenes schreiben. Aber ich will etwas über das Thema erfahren. Ist es wichtig für mich, dass ich vor der Lektüre eines Buches dieses und jenes über die Autorin weiss? Ich liefere nicht gerne Bekenntnisse ab. Lieber bringe ich mich durch meine Sprache rüber, durch die Art und Weise, wie ich erzähle, wie ich mich zu meinem Gegenstand verhalte. Positionsbezüge hingegen laden zu platten Psychologismen ein. Bei mir könnte man etwa sagen: Gut, okay, sie ist ein Scheidungskind, also musste sie jetzt über Scheidungen forschen und so weiter, oder? Das ist mir zu doof.

Nun gut. Du hast deine Dissertation primär historisch gemacht. In einer soziologischen Ausführung hättest du wohl heutige Gerichtsakten zu aktuellen Scheidungen genommen, oder Interviews durchgeführt. Hat das praktische Gründe?
Ich würde den Unterschied gar nicht so machen. Klar ist die Vergangenheit historisch, aber historische Arbeit schaut den Prozess an. Das macht sie aus. Ich will vergangene Geschichten erzählen und damit die Gegenwart erklären. Mit meiner Arbeit. Diese ist historisch, weil ich mit historischen Quellen arbeite, aber methodologisch ist sie soziologisch und vom Erkenntnisinteresse her beides.

Dann handelt deine Dissertation implizit auch von „Geschlechterbeziehungen heute“?
Ich habe gerne vergangene Sachen. Ich mag die Melancholie, die in vergangenen Sachen steckt. Ich mag die Spuren, die ich habe. Die Fragmente. Mir gefällt es, mit diesem Strandgut zu arbeiten, mit dem, was es so an das Ufer schwemmt. Ich will aber damit verstehen, warum es heute so ist, wie es ist, ja. Die Gegenwart ist immer Resultat eines Prozesses. Ich weigere mich mittlerweile auch ein bisschen, die Frage zu beantworten, ob ich eigentlich Soziologin oder Historikerin sei.

«In den Wissenschaften ist im Moment der grosse Trend: Zusammenarbeiten.»

Warum?
Es gibt ja nicht „die Soziologie“, wie es auch nicht „die Geschichte“ gibt. Die Disziplinen sind heterogen. Die grössten gaps sind unter Umständen nicht zwischen, sondern innerhalb der Disziplinen. Schliesslich gibt es dann ja auch die entsprechenden Allianzen.

Als „historische Kultursoziologin“ bin ich sehr nahe bei den Kulturhistorikern und sehr nahe bei den Kultursoziologinnen. Und dann bin ich ja auch im Feld der Geschlechterforschung, das ja sogenannt interdisziplinär funktioniert.

Die Geschlechter scheinen eine Art Fixstern an deinem Horizont zu sein?
Mich interessiert sowohl Soziologie wie auch Geschichte dort, wo sie unserer Welt, wie sie uns geläufig ist, die Selbstverständlichkeit nimmt. Und die Geschlechterdifferenzen sind solche Selbstverständlichkeiten. Man muss wissen, dass das, was ist, „geworden“ ist. Darum interessiert mich zum Beispiel die Geschichte des Körpers. Bei dem hat man am allermeisten das Gefühl, er sei selbstverständlich: Der Körper „ist“ der Körper. Körper ist „Natur“, oder? Es reizt mich zu zeigen, dass das alles nicht so selbstverständlich, sondern Ergebnis historischer Prozesse ist.

Was hältst du vom Argument, dieser grundsätzliche Zweifel am vermeintlich „Natürlichen“ und „Normalen“ leiste einem Prozess der Erosion stabilisierender - weil kollektiv geteilter - Orientierungen Vorschub?
Dieser Diagnose würde ich so nicht zustimmen. Im gesellschaftlichen Diskurs hat man im Moment vielmehr zwei extrem zugespitzte Pole. Radikales Infragestellen vermeintlicher Selbstverständlichkeiten auf der einen Seite, andererseits aber - gerade in Sachen Geschlechterverhältnis - knüppeldick, wie im 19. Jahrhundert, hast du eine Soziobiologie, oder wie es neuerdings heisst, „evolutionary psychology“, die besagt: „Alles ist Natur!“, sprich: Gene.

Hast du ein Beispiel hierzu?
Für Steven Pinker etwa - das ist so ein amerikanischer „evolutionary psychologist“, der am renommierten Massachusetts Institute of Technology forscht und dessen Bücher Bestseller sind - ist offenbar klar: Dass Männer Kriege führen und den Beruf haben und Frauen friedfertig sind und mit den Kindern sind und so: das ist Biologie. Punkt. Einerseits finde ich das schlicht lächerlich und muss dann sagen: Sorry, das ist jetzt nicht besonders originell - das ganze 19. Jahrhundert sprudelte ja nur so von dem Zeug! Andererseits ist es sehr traurig, gefährlich und deshalb Ernst zu nehmen. Die extreme Situation im Moment ist eben, dass man diese beiden Pole gleichzeitig hat. Das ist charakteristisch für unsere Gegenwart. Eine antagonistische Konstellation.

Wo ist dieser Antagonismus besonders deutlich zu sehen?
Etwa anhand der aktuellen Diskussion über die Familie, nichteheliche Lebensgemeinschaften, Adoptivrecht für Lesben und Schwule und so weiter. Da hast du im Moment gleichzeitig eine Biologisierung wie auch eine Ent-Biologisierung von Familie und Verwandtschaft. Und bei der Diskussion um rechtliche Regelungen von Adoption, Ehe etc. bricht das auf. Das ist das Explosive. Vielleicht hat das mit Verunsicherungen zu tun. Vielleicht damit, dass extreme Positionen extreme Gegenpositionen kreieren.

Und die Erklärungen zirkeln endlos weiter um die beiden Pole „Alles ist Natur“ respektive „alles ist Kultur“?
In den Wissenschaften ist im Moment der grosse Trend: Zusammenarbeiten. Naturwissenschaften und Sozialwissenschaften. In Essen zum Beispiel, wo ich eben gewesen bin, gibt es ein Projekt zu Identität und Erinnerung. In diesem Team sind Literaturwissenschaftlerinnen, Neurobiologen und Psychologinnen. Der Trend in den Wissenschaften ist, dass man sagt: Gut, wir können das weder auf Natur, noch auf Kultur reduzieren.

Dann sind also Forschungskooperationen von Neurobiologie und Soziologie angesagt?
So deklariert man das. Nur: das ist tricky. Das verlangte eben, dass man von den eigenen hegemonialen Deutungsansprüchen absieht. Wenn aber beispielsweise ein Biologe zu mir kommt und behauptet, er wisse, wie das sei mit den „Männern“ und den „Frauen“, dann sage ich: Das kannst du mir lange erzählen. Ich glaube dir kein Wort.

Kein Wort?
Es kommt drauf an (lacht).

Eine Chance müsstest du ihm zumindest geben.
Ja. Das vielleicht schon. Aber: Es kann ja gerade nicht darum gehen, dass dann alle so ein wenig tolerant sind: ich glaube dem Neurobiologen, dass es da im Gehirn Bereiche gibt, die irgendwie so und so sind und deshalb sind die Männer so und die Frauen so und er nimmt mir dafür „doing gender“ halb ab. Das ist nicht der Punkt. Unser Problem ist das „Natur/Kultur“-Problem. Dieser Antagonismus ist vielleicht einfach falsch. In der Geschlechtergeschichte kommt diese Polarisierung um 1800. Man muss darüber weiter nachdenken. Ein wenig Toleranz bringt einen echt nicht weiter, wenn der Soziobiologe behauptet, es habe mit meinen Hormonen zu tun, wenn ich vergewaltigt werde. Da bin ich nicht bereit, auch nur ein klein Wenig tolerant zu sein.

«Man muss nicht widerspruchsfrei leben.»

Inwiefern ist das für dich eine politische Frage?
Für mich ist das politisch, was ich wissenschaftlich tue. Etwa zu zeigen: „Paarbeziehungen“ sind nicht „der ewige Geschlechterkampf“. Diese ganzen Stereotypen - von wegen „Frauen und Männer können sich nie wirklich verstehen, weil es immer schon so gewesen ist“ - nein! Für mich ist das politisch, weil es darum geht, Veränderung denken zu können.

Inwiefern bist du damit - gerade als Historikerin - auch eine Visionärin?
(überlegt) Mit den Visionen hab ich‘s nicht so. Ich befasse mich lieber mit dem, was war, und mit dem, was ist. Aber ich glaube, das ist ein bisschen eine Generationenfrage. Meine Generation ist nicht die, welche die grossen Utopien entwickelt. Meine Generation ist vielleicht die „ironische Generation“. Wir leben mit den Widersprüchen. Und zwar gern. Gewissermassen sehen wir vielleicht ein: Man muss nicht widerspruchsfrei leben. Das ist es, was meine Generation prägt: Ein gewisses Bewusstsein von Widersprüchlichkeit.

Wie steht es denn um deine Folgegeneration? Gibt es heute beispielsweise eine neue Generation von Feministinnen?
Das wüsste ich gern. Ich würde gerne mal mit zwanzigjährigen Frauen darüber sprechen. Und zwar mit solchen aus verschiedenen Milieus. Nicht nur mit Studentinnen. Ich wüsste gern, wie das bei denen ist. Man neigt dazu zu sagen: Der Feminismus ist tot. Ich mag nicht in diese Klagen einstimmen. Ich glaube, solange es Ungleichheiten gibt zwischen den Geschlechtern, wird es Feminismus geben. Vielleicht gehen die siebzehn, achtzehn Jahre alten Frauen nicht mehr so auf die Strasse mit feministischen Forderungen, sondern haben das in ihre privaten Beziehungen eingebaut?

Eine soziologische Fragestellung also?
Genau. Wenn ich das wissen will, muss ich mit heutigen zwanzigjährigen Frauen reden. Und man muss den Kontext einbeziehen. Im Moment etwa die politische Konstellation und die ganze Globalisierungsthematik. Es wird bestimmt einen gewissen Schub geben in Richtung einer Politisierung. Im Sinn von Bewegungen auch.

Der Geschlechterkampf geht also in eine nächste Runde?
Ich weiss einfach nicht, was das ist: „Geschlechterkampf“. Das kommt so mit einer Aura des Zeitlosen daher. Die Mannsbilder brauchen diesen Begriff ja vor allem. Bei den Feministinnen findest du das nicht so.

Verweist es nicht auf eine gewisse Reflexion der eigenen Hegemonieansprüche im Gefüge der Geschlechterordnung, wenn die Mannsbilder vom Geschlechterkampf sprechen? Der Begriff impliziert ja quasi, dass die männliche Vorherrschaft nicht mehr unangefochten ist...
Das stimmt. Nur muss man dann alles radikal historisieren. Auch diese Verunsicherung von Männlichkeit ist ein Merkmal unserer Zeit, ein Merkmal des „fin de siècle“ um 2000. Die Frage wäre dann beispielsweise, wie das vor 1800 gewesen ist, als man Männlichkeit und Weiblichkeit überhaupt anders gedacht hat. Darum ist es historisch. Vor 1800 ging man vom sogenannten Eingeschlechtmodell aus. Geschlechterdifferenz galt nicht als absolute, sondern als graduelle Differenz. Geschlecht war ein Kontinuum: Die Frauen sind demnach einfach diejenigen Menschen, die zu wenig Hitze im Körper haben, um die Geschlechtsteile nach aussen zu kehren.

Wie muss man sich denn das vorstellen?
Da gibt‘s die irrsten Geschichten. Ein Beispiel: Ein Mädchen muss auf ein paar Ziegen aufpassen. Als eine entwischen will, jagt das Mädchen ihm hinterher. Um einen Bach zu überqueren, macht es dabei einen derart grossen Sprung, dass es...

... dass es einen Schlitz gibt??
Nein! Den Schlitz hat es da ja schon! Das Geschlecht, der nach innen gekehrte Penis, stülpt dabei nach aussen! Weil es so fest spreizen muss!

Aha! Die Geburt des Geissenpeter also?
Ja. Das ist so eine exemplarische Geschichte, die eine Legende sein mag, aber eben ‚wirklich’ ist, weil sie dieses Modell belegt, Ausdruck dieses Denkens der Geschlechterdifferenz ist. Und nach 1800 hat man dann das Zweigeschlechtermodell. Dort sieht man kein Kontinuum mehr. Das Kontinuum war natürlich auch verhängnisvoll, weil der Mann einfach der weiter Entwickelte war. Das ist kein horizontales Kontinuum, sondern so eins (zeichnet eine Diagonale in den Raum), oder? Es ist ein hierarchisches Kontinuum. Der Mann ist das „Mehr“.

«Knüppeldick, wie im 19. Jahrhundert!»

Und was ist der Mann zu unserem „début de siècle“?
Ja gut, die Männer sind schon ein bisschen in der Krise. Was wiederum dazu führt, dass sie manchmal noch männlicher tun müssen. Wenn man etwa an Bush denkt. Mit seiner Kriegsrhetorik. Das hat schon sehr viel auch mit Geschlechterbildern, mit inszenierter Männlichkeit zu tun. Das meine ich.

Ist die Geschlechtlichkeit dabei wirklich das entscheidende Kriterium? Für Bush ist die eigene Geschlechtlichkeit wohl kaum in der Krise. Für ihn ist Männlichkeit doch nach wie vor „taken for granted“?
Jetzt sind wir wieder bei der Frage nach der Biologisierung und Entbiologisierung von Geschlechtlichkeit. Man weiss nicht genau, kippt es in die eine oder andere Richtung. Die heutige Männerbewegung ist ja in sich höchst ambivalent. Einerseits stellt sie Männlichkeit in Frage, andererseits will sie die Männlichkeit...

...neu erfinden?
Ja. Genau. Dort hast du eindeutig eine Ambivalenz drin.

Die Männerwelt bröckelt also?
Ja. Schon rein strukturell. Die männlichen Territorien sind nicht mehr unangefochten. Aber bei so zeitdiagnostischen Aussagen ist zu bedenken, dass Geschichte nicht linear ist. Wenn ich wieder an meine Paare um 1900 denke: die revolutionären Beziehungsentwürfe, die du da hast, die gibt’s in ähnlicher Weise in den 1970ern wieder. Wir denken so linear, weil wir ein teleologisches, auf ein bestimmtes Ziel gerichtetes Geschichtsbild haben, das in unserer christlichen Kultur und in einer säkularisierten Wissenschaftskultur entstanden ist. Und dieses Ziel ist der “Fortschritt”. „Es“ schreitet fort. „Es“ ist Fortschritt. Das ist in unserer Mentalität drin. Schlussendlich ist Geschichte aber immer auch eine Frage der Interpretation.

Wie sieht es denn mit deiner eigenen Geschichte aus? Wo kommen deine Interessen her?
Das ist eine schwierige Frage. Wo soll ich da anfangen? Es hat sicher damit zu tun, dass ich gerne erzähle, und sicher auch damit, dass ich sehr gerne lese. Dass ich als kleines Kind aus dem Bücherregal meiner Mutter Dinge lesen durfte, die eigentlich gar nicht für Kinder vorgesehen waren (lacht).

«Ich mag die Melancholie, die in vergangenen Sachen steckt.»

Was waren denn das für Dinge?
Ich habe einfach alles gelesen. Alle ihre kitschigen historischen Romane und auch alle Shakespeares. Relativ früh. Habe es einfach gelesen, weil es spannend war. Rückblickend kann ich mir nicht vorstellen, dass ich das verstanden habe. Ja, und meine Eltern sind... wie soll ich sagen... sie haben mich einfach immer alles machen lassen.

Und wenn man einen immer alles machen lässt, landet man früher oder später zwangsläufig beim Geschlechterzeugs?
(lacht) Nein, das ist ja eigentlich überhaupt keine Erklärung.

Warum nicht? Vielleicht ist Geschlechtlichkeit ja gerade für diejenige ein naheliegendes Interessenobjekt, die eben davon ausgeht: alles ist erlaubt, man kann alles hinterfragen?
Das ist wahr. Das stimmt. Meine Eltern fanden schon auch eher: Es könnte so sein - oder auch so. Ja. Zum Feminismus aber würde ich sagen, dass man in dieser Gesellschaft eigentlich gar nicht Frau sein kann, ohne Feministin zu sein. Wie kann man sich bloss einschränken lassen? Ich bin gerne ein freier Mensch. Wie konnte man unseren Grossmüttern und Müttern so lange verbieten, zu wählen und abzustimmen? Ganz trivial. Aber letztlich ist diese Frage, wie ich dazu komme, mich mit der Geschlechtlichkeit zu befassen, enorm persönlich. Das hat damit zu tun, ob du irgendwann konfrontiert bist mit: Oh, ich sollte eigentlich weiblich sein, aber irgendwie will ich doch lieber auf Bäume klettern, oder: Jetzt wachsen die blöden Brüste und ich kann nicht mehr auf dem Boden rumkriechen und Räuber und Polizist spielen. Ob du dich daran störst, dass man dir sagt: Du bist ein Bub, ein garçon manqué, weil du vielleicht nicht so friedfertig bist.

«Wie kann man sich bloss einschränken lassen?»

Und aufgrund dessen hast du begonnen, dich mit dem Feminismus auseinander zu setzen?
Mit fünfzehn oder sechzehn Jahren fing ich langsam an zu finden, ich müsse die Welt verbessern. Meine Mutter hat oft Frauenbiographien gelesen und mich sehr früh damit konfrontiert. Dann hatte ich einen Lehrer, der mit uns Frauengeschichte gemacht hat. Und dann war ich mit sechzehn in Argentinien, im Schüleraustausch. Diese Diskrepanz, so verschiedene Geschlechterkulturen zu erleben: Dort bist du beispielsweise keine Frau, wenn du dich nicht schminkst, oder zumindest eine seltsame Frau. Und ich war total gegen Schminke! Das wird schon auch dazu beigetragen haben. Aber natürlich spielte auch eine Rolle, dass ich solchen Fragen gegenüber überhaupt aufmerksam war. Ich hätte mich ja auch für andere Dinge interessieren können. Ich hätte mich auch schminken können!

Die Erfahrung von Diskrepanz zwischen individuellen Vorlieben und äusseren Erwartungen hat dich also wesentlich für das Geschlechterzeugs sensibilisiert?
Ja. Und du gelangst dadurch unter Umständen auch in eine Not. Es ist ja nicht nur kognitiv. Es ist auch emotional. Unter Umständen kommst du in eine seelische Not. Wenn du beispielsweise das Gefühl hast, du seist ein Mann, und gleichzeitig merkst, dass das überhaupt nicht hinhaut, dann schafft das emotionale Instabilität. Das ist nicht nur kognitive Dissonanz. Das sind Gefühle. Du kannst dich abgelehnt fühlen. Du kannst leiden daran.

Damit kommen wir zurück auf das geplante Seminar über Emotionen. Wie um Himmels Willen willst du Emotionen soziologisch fassen?
Ich habe das Gefühl, mit Diskursanalyse, Deutungsmusteranalysen, objektive Hermeneutik und all dem holt man die kognitive Ebene sehr gut ein: Wieso denken die Leute so und nicht anders? Wo kommt dieses Denken her? Wie ist es strukturiert? Aber das ist nicht alles! (lacht)

Was willst du denn noch?
Schauen, wie Gefühle gesellschaftlich codiert sind: Was heisst Liebe heute und welche Bedeutung hatte Liebe - auf der emotionalen Ebene - vor hundert Jahren? Da kommt man dann rasch auch an den Punkt, wo man sich fragt: Das reine Gefühl, die Angst etwa, ist das nicht etwas Universales? Hier sind die Herausforderungen. Da gibt es noch viel herauszufinden.

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«Ich habe natürlich nie völlig unrecht.»

Michel Foucault (2006): Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Suhrkamp, S. 78.