Zum Thema des SGS Kongresses 2003
Das Thema des diesjährigen SGS-Kongresses lautet „Triumph und Elend des Neoliberalismus“ – „Splendeur et misère du néolibéralisme“. Dass sich die Thema-Formulierung in den beiden Sprachen nicht buchstäblich entspricht, hat mit unserem Sprachgefühl zu tun. Honoré de Balzacs „Splendeurs et misères des courtisanes“ scheint in der französischsprachigen Kultur derart verwurzelt zu sein, dass man „splendeur“ nicht durch „triomphe“ ersetzen kann. Auf Deutsch haben wir uns indessen auf einige feinsinnige semantische Variationen eingelassen. Zum einen soll der beispiellose Triumphzug, den das neoliberale Gesellschaftsmodell in den 90er Jahren erlebt hat, auch begrifflich zum Ausdruck gebracht werden. Zum andern kann „Triumph und Elend“ mehrdeutig verstanden werden: synchron als ein Nebeneinander, aber auch diachron als ein Nacheinander. Damit werden zugleich die unterschiedlichen Diagnosen und Prognosen gespiegelt, die sich in den Sozialwissenschaften finden: während die einen überzeugt sind, dass das neoliberale Modell gegenwärtig gekippt wird, glauben die andern zu erkennen, dass das Nebeneinander von neoliberaler Ideologie und sozialem Elend auch in absehbarer Zukunft andauern wird.
Von Thomas S. Eberle
Der Neoliberalismus ist seit kurzem zunehmend in Verruf geraten. Der gegenwärtige öffentliche Diskurs wird zunehmend emotional geführt, sowohl in den Medien wie in der politischen Auseinandersetzung. Gerade in diesem politischen Klima tun rationale wissenschaftliche Analysen not. Diese können auf ganz verschiedenen Ebenen und auf verschiedenen Gebieten angesetzt werden. Ich möchte wenigstens einige davon thesenartig skizzieren:
Erstens gilt es Themen zu entflechten, die im gegenwärtigen öffentlichen Diskurs zusammengeworfen werden, aber bei genauerem Hinsehen nicht unbedingt zusammengehören. Exorbitante Managerlöhne, der Börsencrash, der ENRON-Skandal, überforderte Verwaltungsräte, Abzockerei in den Teppichetagen – sie alle haben in letzter Zeit zu einem enormen Prestigeverlust des neoliberalen Gesellschaftsmodells geführt. Indes: Sie alle haben damit nichts zu tun. Die populistische Amalgamierung all dieser schlechten Nachrichten zu einem undifferenzierten, mit moralischen Entrüstungsfloskeln gewürzten Einheitsbrei ist nicht mehr auf Stammtischgespräche beschränkt, sondern sie durchsetzt mittlerweile auch den medialen und politischen Diskurs. Dabei können viele der perversen Auswüchse, die in letzter Zeit so viel zu reden gegeben haben, gerade darauf zurück geführt werden, dass dort der Wettbewerb eben nicht gespielt hat. – All diesen Schreckensnachrichten muss mit der nüchternen Fragestellung begegnet werden, mit welchen konkreten Massnahmen sie verhindert werden können. Wirtschaftsethische Appelle werden dabei wenig nützen, das gängige Moralisieren und Lamentieren in den Massenmedien ebenso wenig. Der in letzter Zeit vielbeklagte Vertrauensschwund in die Wirtschaft kann nur gestoppt werden, wenn es gelingt, solche Phänomene unter Kontrolle zu kriegen. Doch wie soll das geschehen? Welche Organisationsformen sind dazu geeignet, welche Kontrollmassnahmen taugen dazu? Die Soziologie hat sich immer mit Praktiken sozialer Kontrolle beschäftigt. Kann sie hier neue Wege aufzeigen?
Zweitens muss Klarheit herrschen, was mit „Neoliberalismus“ gemeint ist. Dogmengeschichtlich geht der Begriff auf Eucken, Hayek, Robbins, Röpke u.a. zurück. Er bezeichnet eine politisch-ökonomische Doktrin, die im Wettbewerbssystem den Garanten für sozialen Fortschritt und individuelle Freiheit sieht. Vom Laissez-faire des klassischen Liberalismus unterscheidet er sich, indem er die Notwendigkeit anerkennt, dass der Staat ständig in das Wirtschaftsgeschehen eingreifen muss. Er soll dies aber möglichst nicht direkt, sondern lediglich mittelbar tun, indem er einen öffentlich-rechtlichen Rahmen für die Wirtschaftsordnung setzt und gewährleistet. Neoliberale sind Vertreter einer „sozialen Marktwirtschaft“.
Nun stellt sich hierbei das Problem, das Verhältnis von Wettbewerbsorientierung und sozialer Ausrichtung zu bestimmen. Das ist stets eine Frage der politischen Gesinnung – und auch bei den Neoliberalen finden sich diesbezüglich grosse Unterschiede. Wissenschaftliche Forschung sollte dazu beitragen, jene Bereiche zu identifizieren, die sich für eine marktwirtschaftliche Organisation eignen, als auch jene, bei denen eine Wettbewerbsausrichtung zu gesellschaftspolitisch unerwünschten Effekten führt. Dies kann nur an konkreten Fällen diskutiert werden, und oft genug geht es dabei darum, nicht-intendierte Handlungsfolgen zu eruieren. Es gibt viele Beispiele für funktionierende Märkte, die für eine effizienten Abgleichung von Angebot und Nachfrage sorgen. Es gibt viele Gegenbeispiele, wo sie versagen. Die Marktorganisation hat ihre Grenzen, und die Rede vom „Service public“ macht durchaus Sinn. Neoliberale haben eine Präferenz, gesellschaftliche Problemlagen aus einer ökonomischen Perspektive zu betrachten. Und ökonomisches Denken orientiert sich vornehmlich – oft ausschliesslich – am Kriterium wirtschaftlicher Effizienz. So stellt sich die Frage, in welchen Bereichen das Vorherrschen des Effizienzkriteriums sinnvoll ist, und in welchen Bereichen es problematisch oder gar unsinnig ist. Jede Gesellschaft muss sich über ihre politischen Zielsetzungen klar werden, und da gibt es – das wissen wir nicht erst seit Parsons – eine Vielzahl weiterer Wertbezüge, die menschliches und gesellschaftliches Leben lebenswert machen.
Drittens: Ökonomisches Denken allein ist zu einseitig. Die Soziologie ist gefordert, einen sichtbaren Beitrag zu leisten, gesellschaftliche Verhältnisse im Kontext umfassenderer Wertbezüge zu reflektieren. Seit ihrer Entstehung hat sie sich beispielsweise mit dem Gegensatz von Gemeinschaft und Gesellschaft beschäftigt. Am vorletzten ISA-Kongress in Montréal war dies ein Hauptthema – das Begriffspaar ist in der Profession also nach wie vor aktuell. Geldwirtschaftliche Märkte mögen effizient sein – indes: wirken sie auch gemeinschaftsstiftend? Regionale, nationale, ethnische oder kulturelle Identitäten lassen sich jedenfalls nicht marktmässig konstituieren. Der Kommunitarismus, der dem Konzept der „Gesellschaft“ den zentralen Wert der Gemeinschaft entgegensetzt, hat daher den Liberalismus stets bis aufs Messer bekämpft.
Wie schwierig es heutzutage ist – in einer multikulturellen, pluralistischen und individualistischen Gesellschaft – eine übergreifende gemeinschaftliche Identität zu finden, zeigten u.a. anschaulich die Auseinandersetzungen um die Expo 02. Dies hat aber wohl eher mit der Struktur moderner Gesellschaften zu tun als mit der politischen Ordnungsideologie. Gemeinschaften bilden sich eher auf lokaler Ebene. Viele der herkömmlichen gemeinschaftlichen Bindungen scheinen sich derzeit aufzulösen, andererseits entstehen in Form der posttraditionalen Vergemeinschaftung Gemeinschaften neuen Typs. Soziologische Reflexion ist gefordert, gemeinschaftsbildende Prozesse zu erforschen und ihre Funktionen in konkreten sozialen Kontexten zu bestimmen. Um ein Beispiel zu nennen: Die öffentliche Volksschule hat wohl eine enorme gemeinschaftsbildende und sozialintegrative Funktion in der heutigen Gesellschaft. Wenn man nun, wie einige neoliberale Bildungspolitiker vorschlagen, die Volksschule wettbewerbsmässig organisieren würde und den Eltern Bildungsgutscheine zur freien Wahl der Schule verteilte, wären die Folgen absehbar: nämlich eine starke Förderung der gesellschaftlichen Segregation. Die ökonomische Versessenheit auf wirtschaftliche Effizienz und Leistungssteigerung kriegt solche Folgen gar nicht erst in den Blick. Retrospektiv erklärt man sie dann zu nicht-intendierten Handlungsfolgen. Es ist die Aufgabe der Soziologie, die erwartbaren Folgen aufzuzeigen, bevor solche Politiken realisiert werden.
Viertens: Nach dem Börsencrash, der Desillusionierung in Bezug auf die sog. New Economy, den zahlreichenUnternehmensschliessungen und Massenentlassungen ist die soziale Frage wieder ins öffentliche Bewusstsein zurück gekehrt. Viele Soziologinnen und Soziologen, wie etwa Pierre Bourdieu, der bereits vor Jahren das „Elend der Welt“ beschrieben hat, verloren sie nie aus dem Blick. Marktlogiken implizieren ein darwinistisches Prinzip, das erkennt man schon an der verwendeten Terminologie: Der Stärkere gewinnt, der Schwächere scheidet aus. Markttheoretiker konzentrieren sich auf die Marktteilnehmer, die Ausgeschiedenen geraten aus dem Blickfeld. Aus einer soziologischen Perspektive bleiben sie jedoch Teil der Gesellschaft, und es stellt sich die Frage, was mit ihnen geschieht. Besonders brisant ist diese Problematik beim Arbeitsmarkt. Das plötzliche Wiedererstarken der schon längere Zeit totgesagten Gewerkschaften wirft allerdings die Frage auf, ob die gegenwärtigen Verhältnisse in den alten Interpretationsmustern der Klassenkampftheorie heute noch adäquat erfasst werden können. Mittlerweile erstreckt sich die Kategorie der Überflüssigen quer durch alle Schichten. Muss die soziale Frage neu gedacht werden, mit neuen Konzepten, neuen Denkfiguren? Oder kann man die Überflüssigen mit den konventionellen Mitteln der etablierten Sozialfürsorge verwalten?
Fünftens – und letztens: Der Triumphzug des neoliberalen Gesellschaftsmodells ist gegenwärtig gedämpft. Ich glaube jedoch nicht, dass es demnächst verabschiedet wird. Zu sehr hat es fast sämtliche Bereiche der Gesellschaft durchdrungen. Im öffentlichen Diskurs gibt es zwar Anzeichen, die ein Umdenken insinuieren: Wenn beispielsweise der neue Chairman Schweiz der Credit Suisse, Rolf Dörig, für ein „neues Gleichgewicht von Politik und Wirtschaft“ plädiert, oder wenn etwa der WEF-Chef Klaus Schwab von den Unternehmen eine „sozial orientierte Philosophie“ fordert, um wieder Vertrauen zu gewinnen. Andererseits macht es doch hellhörig, wenn der frühere – und verdiente – Generalsekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, Beat Kappeler, in der „NZZ am Sonntag“ versichert, der Markt sei kein Räubersystem, die Wirtschaft brauche keine ethischen Nachbesserungen, Moralisieren sei fehl am Platz – und er abschliessend für „Mut zu Markttugenden“ plädiert – der Markt wird’s nämlich schon richten.
Auch hier wird man jedoch unterscheiden müssen zwischen dem medialen Diskurs und der Mikropolitik faktischer Handlungsorientierung. Der Begriff Neoliberalismus mag für einige Zeit aus dem öffentlichen Diskurs verschwinden, sein Geist – und darauf kommt es vor allem an – wird uns noch lange beschäftigen. Denn sein Geist weht mittlerweile selbst dort, wo sich die Betroffenen nicht als Neoliberale verstehen. Heute verstehen sich selbst Sozialarbeiter zunehmend als Sozialmanager – inzwischen gibt es gar Sozialunternehmer –, und sie reden vom „Management sozialer Dienstleistungen“ und fordern von ihrer Klientel eigeninitatives – sprich: unternehmerisches Handeln. Die soziale Organisation solcher Handlungspraktiken in konkreten Feldern empirisch zu studieren, bietet für die Soziologie ein weites – und spannendes – Feld. Denn jenseits der grossen Politik und der öffentlichen Diskurse geht es doch primär um die Frage, woran sich die Mitglieder konkreter sozialer Kontexte bei der Bewältigung ihrer alltäglichen Angelegenheiten orientieren. – Um ein letztes Beispiel zu nennen: Die Vertreter des New Public Managements, gemäss dem verschiedene Verwaltungseinheiten umgestaltet wurden, ist stets von der Annahme ausgegangen, dass die Verwaltung gemäss den offiziellen organisatorischen Regeln operiert. Sie haben sich nie die Mühe genommen, erst mal die faktische Handlungslogik der Verwaltung zu erforschen. Wenn man weiss, dass öffentliche Verwaltungen oft nicht dank der gesetzten Regeln, sondern trotz dieser Regeln funktionieren, erahnt man, wie sehr eine top-down verordnetes, neues Regelsystem zu Störungen des Systems führt, die niemand vorausgesehen hat. – Ordnungspolitische Diskurse mit ihrer abstrakten Terminologie sind oft wenig oder schlecht mit den Niederungen effektiver Handlungspraktiken verknüpft; oft wirken sie gegenüber den Handlungswirklichkeiten ziemlich abgehoben. Über die faktischen Handlungsorientierungen der verschiedenen Akteure in konkreten sozialen Feldern verlässliche Erkenntnisse zu produzieren, ist daher eine wichtige Aufgabe der Soziologie.
Die skizzierten fünf Punkte decken das Themenspektrum unseres Kongressthemas bei weitem nicht ab. Neben der Kongresseröffnung und den Mittagsvorlesungen prominenter Soziologinnen und Soziologen sind drei Plenumsveranstaltungen geplant zu den Themen
- Politik und Wirtschaft im Spannungsfeld von De- und Reregulation
- Die Renaissance der sozialen Frage
- Produktionsprozesse globaler Ungleichheiten
Daneben gibt es über 20 Module und Workshops unserer Forschungskomitees und weiterer Arbeitskreise, die sich mit dem Kongressthema aus einem bestimmten soziologischen Blickwinkel befassen: etwa Bildungspolitik, Sport, Geschlechterverhältnisse, Arbeit, Profession, Politik, Recht, öffentliche Verwaltung, Trendforschung, soziale Probleme, und viele mehr. Die entsprechenden Calls for Papers werden im April-Bulletin der SGS publiziert, gleichzeitig auch auf unserer Homepage auf Deutsch und Französisch. Zum Abschluss des Kongresses findet ein Podiumsgespräch statt, an dem Oskar Lafontaine, Heiner Geissler, Peter Bodenmann und Franz Steinegger (angefragt) teilnehmen werden. Mit dieser Veranstaltung will der Kongress über den engeren Kreis der Wissenschaft hinaus eine weitere Öffentlichkeit erreichen.
Beim vorliegenden Artikel handelt es sich um die gekürzte Fassung der Rede des Präsidenten der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie, Prof. Dr. Thomas S. Eberle, anlässlich der Kongressankündigung vom 20.11.02 an der Universität Zürich.
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