Globalisierungseffekte in Zentrum und (Semi-)Peripherie
In der Globalisierungsdebatte der Neunziger war die Rede vom Terror der Ökonomie, von den Veränderungen die gewaltsam über die Menschen hereinbrachen. Seit dem 11. September 2001 herrscht nun aber der Diskurs vom realen Terrorismus vor und die Ökonomie des Terrors steht im Vordergrund. Beide Phänomene sind Ausdruck der selben globalen Entwicklung: der Globalisierung - die keineswegs neu ist. Im folgenden Artikel werden Parallelen gezogen zur Globalisierungswelle zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Diese endete mit dem Attentat auf den Thronfolger Franz-Ferdinand in Sarajevo, das den 1. Weltkrieg auslöste. Wie geht die Geschichte diesmal weiter?
SOZ-MAG Beitrag von Hanno Scholtz
Einer der wichtigsten Sachbuch-Bestseller der neunziger Jahre war Viviane Forresters „Terror der Ökonomie“, der seiner Autorin den renommierten Prix Medici einbrachte und sich im französischen Original wie in englischer, deutscher und anderen Übersetzungen nach seinem Erscheinen (im französischen Original 1996, deutsch 1997) über lange Zeit auf den verschiedenen Bestseller-Listen halten konnte.
Nach dem 11. September 2001 hat sich die Genitiv-Konstruktion umgekehrt: Nun ist es die Ökonomie des Terrors, die das Publikum interessiert, und eine Zeit lang führten die Bestsellerlisten nun Bücher über die finanziellen Hintergründe von Osama bin Ladens Al Qaida. Keiner ihrer Autoren hat darüber auch nur annährend Prominenz von Viviane Forrester erlangt, aber auch sie war natürlich nur die sichtbarere Spitze einer breiten gesellschaftlichen Diskussion, die nun von einer anderen abgelöst worden ist: In der Globalisierungsdebatte der neunziger Jahre hatte das Publikum den Eindruck, dass die Ökonomie gewalttätig verändernd in die gesellschaftliche Situation einbrach, nun sehen wir, wie ganz konkret und herkömmlich wieder Gewalt ausgeübt wird, und fragen uns nach den Hintergründen – und vielleicht auch nach den Beziehungen zwischen den beiden Entwicklungen.
Wie ich im folgenden zeigen werde, gehören die beiden Entwicklungen tatsächlich zusammen. Es sind zwei Seiten der selben globalen Entwicklung: Im einen Fall ihre Auswirkung in den Zentren des Weltsystems, in denen die Diskussionen geführt werden, im anderen Fall ihre Auswirkungen in der Semiperipherie, die in der Entwicklung zunächst übersehen wird und die sich die ihr zustehende Aufmerksamkeit erbombt.
Der Terror der Ökonomie
Viviane Forresters „Terror der Ökonomie“ ist ein schillerndes Buch. Forrester polemisiert gegen die Aufladung der wirtschaftlichen Dynamik (dies Wort selbst würde von ihr schon in Anführungszeichen gesetzt, wie ein unanständiger Ausdruck) mit positiven Werten, sie beklagt die Perspektivlosigkeit der Jugend in den banlieues der Pariser Agglomeration, sie geisselt die Kritiker des europäischen Sozialstaats. Einmal gesteht sie zu: „Wiederholen wir es: Aufgabe der Wirtschaft ist nicht, wohltätig zu sein“ (122), aber dann wird die Tatsache, dass dies nicht so ist, doch deutlich negativ konnotiert: „Rücksichtslos werden ganze Gemeinden in die Arbeitslosigkeit gestürzt, bisweilen ganze Regionen zugrunde gerichtet und die Nation an den Rand der Armut gebracht“ (143).
Die qualitative Analyse, mit der sie paradigmatische Situationen beschreibt, liegt dabei in einer Linie mit den Stories etwa von Richard Sennett, der angelsächsisch-trocken, tausendmal unaufgeregter - und daher im Effekt eher eindrücklicher - Verlierer des neuen Lebens ausmacht, sogar unter den scheinbaren Gewinnern. So beschreibt er Rico, den Sohn eines italienischstämmigen Hausmeisters, selbständiger Unternehmensberater und eigentlich auf der Gewinnerseite des Lebens, dabei aber ständig getrieben, unter Druck, in dem Gefühl, die Kontrolle über das eigene Leben weder selbst zu besitzen noch diese Fähigkeit an die eigenen Kinder weitergeben zu können. Aus seiner Geschichte kommt der englische Titel seines Buches The Corrosion of Character. Das ist die eine Seite des „Terrors der Ökonomie“: Das sie das Leben des Individuums verändert in einer Weise, die beständige Änderung verlangt und so keine Ausprägung einer eigenen Lebenserzählung mehr zulässt, in der man sich selbst als Erzähler wieder erkennen könnte.
Die andere Seite des „Terrors der Ökonomie“ lässt sich nicht als Einzelgeschichten erzählen. Sie ist auf das Gegenüber angewiesen von Gewinnern und Verlierern. Zur Wahrnehmung der Globalisierung gehört, dass wenige Menschen mit grossen (materiellen) Gewinnen einer grossen Zahl von Verlierern gegenüberstehen. Es geht also um Ungleichheit.
Tatsächlich hat die Ungleichheit der Einkommen in den Industrieländern, die seit dem Zweiten Weltkrieg zunächst lange Zeit abnahm, in der letzten Zeit wieder zugenommen. Der Wendepunkt liegt unterschiedlich: Für die USA sowie Australien, Neuseeland und Dänemark geht die Schere bereits seit Ende der 1960er Jahre wieder auseinander, Großbritannien folgte mit der Thatcher-Ära und in ähnlich großem Ausmass wie Vorreiter USA, während etwa Madame Forresters Frankreich ausweislich der Daten sich weiterhin auf dem Pfad abnehmender Ungleichheit bewegt.
Und vor kurzem haben die US-Soziologen Arthur Alderson und François Nielsen im American Journal of Sociology (2002, 1244ff.) gezeigt, dass tatsächlich die steigende Ungleichheit im Länder- und Zeitvergleich mit den „üblichen Verdächtigen“ der Globalisierungsdiskussion auftritt. Tatsächlich haben sowohl der Abfluss an Auslandsdirektinvestitionen wie der Anteil von Importen aus Entwicklungsländern am GDP als auch der Zuwanderungssaldo jeweils einen signifikanten Beitrag zum Anstieg der Ungleichheit, während auf der anderen Seite Variablen der verbliebenen Gewerkschaftsmacht (Gewerkschaftsdichte, Lohnfindungsmechanismen und das Ausmass an Kompensationsleistungen bei Lohnausfall) selbst beim gemeinschaftlichen Auftreten noch jeweils signifikant zu einem geringeren Mass an Ungleichheit beitragen.
Damit sagen sie allerdings noch nichts über die Mechanismen aus, welche die beobachteten Ungleichheitsniveaus hervorbringen (und benennen dieses Manko auch selbst). Vielleicht lässt sich dieser Erklärungslücke näher kommen, indem wir uns einer anderen, in der öffentlichen Wahrnehmung noch weit bedeutsameren Variable des „Terrors der Ökonomie“ zuwenden: der Arbeitslosigkeit.
Globalisierung im Zentrum: Geht die Arbeit aus?
Denn die grosse Angst der Globalisierungsdebatte war und ist die Angst vor der Arbeitslosigkeit. Als solche wird sie jedenfalls debattiert. Arbeit gibt eine ökonomische Grundlage, Arbeit gibt eine Struktur der Lebensabläufe im Alltag, Arbeit gibt eine Perspektive der Lebenserzählung. Und Arbeit ist nicht nur Beschäftigungstherapie, sie ist stets durch Leistung geprägt: Arbeit erhält ihren Sinn nicht aus den vielen positiven Effekten, die sie auf die Arbeitenden hat, sondern immer daraus, dass sie etwas für andere schafft – auch wenn das in der modernen, arbeitsteiligen Welt natürlich meist nur ein Teilnehmen an einem grösseren, von keinem einzelnen zu leistenden Schaffensprozess ist.
Auch die Bedrohung der Arbeit durch die globale neue Wirtschaftswelt hat ihre einfache Geschichte, die am besten im Buch Globalisierungsfalle der Spiegel-Autoren Martin und Schramm erzählt wird, sich aber auch bei Forrester, Sennett und anderen spiegelt: Wie auf dem World Economic Forum 1994 in Davos die grossen Wirtschaftslenker zusammensitzen und der eine Boss den anderen fragt, nun sag mal, wie viele von deinen Leuten brauchst du wirklich – und die Antwort lautet: etwa 10% derjenigen, die ich jetzt habe. Emotionsfördernd hängt der Autor noch an, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief angesichts arbeitsloser Massen vor seinem geistigen Auge nach diesem Diktum.
Tatsächlich wird dies auf der Ebene der Firma von Untersuchungen bestätigt: So beschäftigten die fünf grössten Schweizer Industrieunternehmen 1980 noch jeden vierten Arbeitnehmer in der Schweiz, 1999 waren es hingegen gerade mal noch 7%. Parallel dazu erhöhte sich der Bestand ihrer Mitarbeiter in Entwicklungsländern von 16% auf 29%, und der nach wie vor größte Teil (1980 59%, 1999 64%) ist in anderen Industrieländern tätig.
Im Gesamt des Arbeitsmarktes sprechen die Zahlen jedoch eine andere Sprache.
Zur Jahreswende 2002/03 publizierte die Zeitschrift Foreign Policy zum dritten Mal einen Globalisierungsindex. Er setzt sich aus vier Bereichen zusammen, in denen jeweils drei Variablen in einen zwischen 0 und 1 liegenden Index umgerechnet werden: Wirtschaft mit den Variablen Auslandsdirektinvestitionen (hier zu- und abfliessende Werte gleichermassen), Handel und Portfoliokapitalflüssen, Technik mit Internet Hosts, Servern und Nutzern, Politik mit der Anzahl der Botschaften im Land, der Mitgliedschaften in Internationalen Organisationen sowie der Beteiligungen an internationalen Friedenseinsätzen, und persönlichen Kontakten, gemessen. Dieser Index korreliert in einem kleinen OECD-Länder-sample signifikant (n=19, r=45,8%, p=4,8%) mit der durchschnittlichen Arbeitslosigkeit. Aber entgegen der globalisierungskritischen Befürchtung nicht positiv, sondern negativ: Länder mit einem geringeren Globalisierungsniveau wie Spanien oder Japan haben im Erwartungswert eine Arbeitslosenquote von knapp 8%, für Länder mit hoher Verflechtung wie Irland, die Schweiz, Schweden oder die USA liegt dieser Erwartungswert bei nur 4%. Und zwar nicht das Signifikanzniveau, wohl aber der statistisch negative, also erfreuliche Zusammenhang gilt mit Ausnahme des politischen auch für die Teilindizes.
Eine wichtige Erklärung für den scheinbaren Widerspruch liegt im Strukturwandel der Wirtschaft begründet: Die 1990er Jahre waren auch die Zeit der Entwicklung zur postindustriellen Unternehmenslandschaft, geprägt insbesondere von der „Konzentration auf Kernkompetenzen“. Von den 90% Arbeitnehmern, die möglicherweise in einem der alten Industriedinosaurier nicht mehr gebraucht wurden, wurden ja nicht die Leistungen überflüssig. Sie verloren mit dem Arbeitsplatz im Allgemeinen auch die Annehmlichkeiten des alten Großunternehmens, und, wie es Richard Sennett anhand einer Gruppe ehemaliger IBM-Programmierer beschreibt, als Individuen möglicherweise auch dauerhaft die Arbeit. Aber das bedeutete nicht, dass ihre Arbeit nicht mehr getan werden musste, und weil sie getan werden musste, hatte nun zumindest jemand anderes die Chance, dafür einen Lohn auszuhandeln.
So haben sich manche der Ängste, die im Boom der neunziger Jahre diskutiert wurden, sehr relativiert. Dafür sind neue hinzugekommen, die längst überwunden schienen. Gibt es zwischen beiden eine Verbindung?
Globalisierung in der Peripherie: Lernen aus der Geschichte?
Um diese Frage zu beantworten, zunächst ein Blick auf eine Frage, die in der Globalisierungsdebatte ebenfalls intensiv diskutiert wurde: Ist Globalisierung wirklich ein neues Phänomen? Hier gibt es ein klares Nein. Tatsächlich gab es bereits eine erste Globalisierung am Anfang des 20. Jahrhunderts, in der schon damals die Welt sowohl ökonomisch als auch kulturell zusammenrückte: Die Höhe der globalen Exporte und Auslandsdirektinvestitionen des Jahres 1913 wurde, in Relation zum Weltsozialprodukt, erst wieder um 1992 erreicht – für die kulturellen Angleichungsprozesse durch die international analogen Veränderungsprozesse und die großen Migrationsströme der damaligen Zeit gibt es nahe liegender Weise keine entsprechend einfachen Kennzahlen; mir ist aber auch keine entsprechende Studie bekannt.
Aber das Globalisierung nicht etwas vollkommen Neues ist, heisst natürlich genauso wenig, dass sie gewissermassen selbstverständlich wäre. Im Gegenteil wurde die Entwicklung am Anfang des 20. Jahrhunderts ebenso als etwas Besonderes wahrgenommen wie die Entwicklung an seinem Ende, und es lohnt sich, die beiden Entwicklungen einmal im Vergleich zu betrachten.
In beiden Fällen standen am Anfang technologische Innovationen und gesellschaftliche Veränderungen: Zwischen 1890 und 1913 waren das die Fortschritte im Bau großer Dampfschiffe, Elektrizität, Telegrafie, der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft und die Armutsmigration im Gefolge der demographischen Transformation in Europa; in den neunziger Jahren waren es Mikroelektronik, Computer, Internet, der Übergang zur postindustriellen Gesellschaft und das Ende des sozialistischen Ostblocks.
In beiden Fällen kam es, wie bereits beschrieben, in der Folge zu einer rapiden Zunahme der wirtschaftlichen Verflechtung – freilich nicht auf der ganzen Welt, sondern nur zwischen einer beschränkten Zahl beteiligter Staaten. Vor 1913 waren das allein West- und Mitteleuropa und die (verkehrsgünstigen Gebiete der) USA, in der zweiten Globalisierung hat sich das noch um Japan und das EU-Südeuropa erweitert; der Rest der Welt blieb und bleibt außen vor – es waren also beides in ihrem Erfolg unvollständige Globalisierungen, in der Veränderung der Wahrnehmungen und der Wertesysteme hingegen waren sie vollständiger.
So kam es in beiden Fällen auch zu einer relativen Verschlechterung peripherer Gebiete, die wirtschaftlich nicht eingebunden, jedoch in kultureller Hinsicht durchaus über die beneidenswerten Entwicklungen in den Zentren auf dem Laufenden waren. Das war Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem Ost- und Südosteuropa, heute sind es generell die Nicht-Industrieländer weltweit, die im (zwischenzeitig diskreditierten, jedoch inzwischen wieder allgemein genutzten) Begriff der Entwicklungsländer zusammengefasst werden. Sie gewannen und gewinnen nicht viel oder gar nichts, wurden und werden aber von den Glücksverheissungen der neuen Zeit und der Infragestellung alter Wertvorstellungen genauso betroffen.
Und von diesen peripheren Gebieten aus kam es in beiden Fällen zu einer Zunahme terroristischer Aktivität: Das Ende der ersten Globalisierung kam mit einem erfolgreichen Attentat, nämlich dem des serbischen Anarchisten Gavrilo Principe in Sarajevo am 28.6.1914, das zum Ausbruch des ersten Weltkrieges führte. Mit Thronfolger Franz-Ferdinand attackierte Principe sowohl ein Symbol wie auch einen Funktionsträger jener Akteure, welche die Globalisierung vorantrieben und von ihr profitierten: Genau die Merkmale, die auch das World Trade Center für das Attentat vom 11. September 2001 interessant machten.
Die Ökonomie des Terrors
Und damit sind wir bei der Ökonomie des Terrors: Principe und andere anarchistische, kommunistische und später auch nationalistische Terroristen seiner Zeit fanden Unterstützung aus einer Mischung aus zwar illegitimen, jedoch zweckrationalen Motiven und solchen, die auf vorsätzlicher oder fahrlässiger Fehleinschätzung beruhten. In einer allgemeinen Sichtweise interessiert mich nicht, wie ein einzelner Terrorist sich individuell seine Mittel beschafft hat oder wer ihm zu Diensten war. Stattdessen hilft die vereinfachende Sichtweise der Ökonomen: Terroristen sind Anbieter eines bestimmten „Gutes“, mit dem sie auf eine bestimmte Nachfrage reagieren, wobei ihre eigene Nachfrage nach Berühmtheit, dem Paradies etc. natürlich mit eine Rolle spielt – aber, außer bei verwirrten Einzeltätern (und kein erfolgreicher Terrorist ist nur ein verwirrter Einzeltäter), nie die einzige. Wie kommt es also zu einer Nachfrage nach Terror?
Rational sind Attentate dann, wenn sie Anstöße der Veränderung in eine bestimmte Richtung bringen: In diesem Sinne war das Attentat von Gavrilo Principe höchst rational, denn es leitete den Untergang der österreichisch-ungarischen Herrschaft auf dem Balkan ein und damit jene Veränderungen, die über Jahrzehnte zu einem serbisch dominierten Föderativstaat und heute zu einem eigenständigen Serbien geführt haben.
Ebenfalls als durchaus noch zweckrational angesehen werden kann die Idee der Rache auf der symbolischen Ebene: Die eigene Ausgangslage der Terroristen und ihrer Unterstützer wurde vor allem so schlecht empfunden, weil es bei den anderen so rasant nach oben ging; hierfür mag ein erfolgreiches Attentat kurzfristig einen funktionierenden Ausgleich bieten.
Zumeist aber ändert sich an der realen Situation der materiellen oder ideellen Unterstützer von Terroristen wenig – allenfalls, indem wiederum sie Abnehmer finden, die ihrerseits für die symbolische Entlastung einen realen Preis zu zahlen bereit sind: Menschen, die auf jedwede Veränderung Hoffnung zu setzen bereit sind, in der sie sich mit ihren bestehenden Verhaltensmustern als souverän empfinden können.
Alle drei Motive sind in beiden Parallelfällen auf eine Weise vorhanden, die sich aus der vorangegangenen unvollkommenen Globalisierung beschreiben lassen: Wie Gavrilo Principe konnten sich Bin Ladens Unterstützer von der Hoffnung leiten lassen, eine Ordnung aufzubrechen, die ihnen zuwenig Gewicht bietet; wie die Anarchistenzirkel im Fall des Thronfolgers mögen sie im Fall der Zwillingstürme eine symbolische Befriedigung für empfundene Benachteiligung verspürt haben; wie für die Völker des Balkans mag man sich fragen, ob es für beide Ziele nicht bessere, nicht-gewalttätige Wege hätte geben können, ob die Nachfrage nach Terror nicht auch ein Ergebnis ihrer mangelnden politischen Phantasie war. Aber die Nachfrage, i.e. Unterstützungsbereitschaft war in beiden Fällen vorhanden.
Folgen
Was folgt aus diesen unangenehmen Parallelen? Im Fall der ersten Globalisierung ging die Geschichte äusserst unangenehm weiter: Einem ersten Rückgang des Welthandels folgte in der langen Sicht eine Welle zunächst dezidiert anti-vernetzender, nämlich protektionistischer Politik, die speziell nach 1929 die weltwirtschaftlichen Zusammenhänge wieder torpedierte; mit Deutschland ging ein Land, dessen Bevölkerung für die resultierende deutliche Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage Schuldzuweisungen nach außen dankbarer aufnahm als andere, zu einer Politik der Aggression über, die in Gewalt und Krieg mündete; in Russland kamen die Bolschewisten an die Macht, die dem Terror nahe standen, ihn selbst praktiziert hatten, es aber schafften, trotz ihrer Progressivitätsrhetorik (im krassen Gegenteil zu den Nazis, die Dauer behaupteten und Zerstörungsdynamik praktizierten) mit ihrem industrialistischen Gegenmodell von Gesellschaft sieben Jahrzehnte Stabilität aufzubauen, die die Welt für diese Zeit in zwei Blöcke spaltete.
Aus der Analyse im ersten Teil lässt sich ablesen, dass zumindest diese letztere Gefahr (oder Möglichkeit, denn das bipolare Weltmodell besass ja auch seine Vorteile) so nicht besteht. Mit der alten Industriegesellschaft ist auch die Möglichkeit vergangen, eine Gesellschaft unter die Diktatur des Proletariats zu zwingen. Hierfür war die weitgehende Homogenität der Tätigkeiten notwendig, die einerseits die Beherrschbarkeit der Menschen und andererseits die Beherrschbarkeit ihrer Probleme sicherte; aber mit dieser Homogenität ist heutzutage kein (wirtschaftlich erfolgreicher) Staat mehr zu machen.
Eine problematische Option, die die Akteure damals wählten, wäre ebenfalls nicht so eine scheinbar einfache Lösung wie damals: Protektionistische Politiken sind zum einen durch das Regelwerk der WTO massiv erschwert, und die Tatsache, dass sie binnen kurzem zu gesamthaft schmerzhaften Reaktionen führen würden, ist im Bewusstsein der Wahlbürger weit mehr verankert als damals. Aber das ist keine Gewähr dafür, dass nicht doch Interessengruppen innerhalb eines Landes zum Schutz ihrer spezifischen Klientel auf sie drängen und damit Erfolg haben könnten – zumal ja durch berechtigte Kritik am Gesamtparadigma der WTO ihre Gesamtlegitimation durchaus gelitten hat.
Bleibt die schlimmste Option, die der Eskalation in militärische Gewalt. Sie hat ja bereits begonnen: Zwischen der Abfassung und der Veröffentlichung dieses Artikels wird die Zahl der im Irak-Krieg Getöteten vom dreistelligen gewiss in den vier-, letztlich in zu befürchtender Weise in den fünfstelligen Bereich steigen. Das liegt noch fast um den Faktor 1000 unter dem Blutzoll, den die Phase von 1914 bis 1945 einer nicht halb so großen Menschheit abnahm. Aber niemand weiss, wo wir uns in der historischen Analogie befinden – Jalta 1944 wird es kaum schon sein.
Selbst wenn den amerikanischen Ankündigungen Ergebnisse folgen und neben Haliburton-Anlagen auch eine Demokratie im Irak installiert wird, versiegt damit nicht automatisch die Nachfrage nach Terror. Das Angebot, das dieser Nachfrage folgt, ist nicht auf „Schurkenstaaten“ angewiesen. Und die Gefahr, dass auf die punktuelle, jedoch unberechenbare Gewalt des Terrors mit der berechenbaren, doch breiten Gewalt des Militärs geantwortet wird, bleibt so weiter bestehen: An Israel sieht man, welch ein unangenehmes Leben sich damit ergeben kann.
So wird die Ökonomie der Gewalt erst wieder ein Ende finden, wenn neue stabile Ordnungen gefunden sind, die keine Nachfrage nach Gewalt mehr hervorbringen: Weil das Machtgefüge in einem langfristigen Gleichgewicht ist, in dem sich von einem gewalttätigen „Anstoss“ keiner mehr etwas versprechen kann; weil es keine symbolischen Demütigungen mehr gibt, die das Bedürfnis nach Vergeltung erzeugen; und weil die Akteure über die Lage der Dinge ausreichend informiert sind, dass ihnen niemand mehr vorgaukeln kann, mit Gewalt ihre Situation verbessern zu können.
Nachdem sich in den Industrieländern die Hoffnungen wie die Befürchtungen der neunziger Jahre relativiert haben, sollte es für diese Dinge vielleicht weniger Geld, sicher aber mehr Aufmerksamkeit geben.
Hanno Scholtz, aufgewachsen in Berlin, Studium der Ökonomie (mit vielen Nebeninteressen) dort selbst, in Köln und Mannheim, mit Jobs im Politikumfeld finanzierte Promotion über die Optimierung demokratischer Institutionen. Als Deutscher früh interessiert am Verstehen kollektiv legitimierter Gewalt, zu denen auch Terror gehört. Seit 2001 durch glückliche Zufälle wieder an der Uni: in der Soziologie, in Zürich.
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