100 Jahre Theodor W. Adorno - Im Sinne der Aktualität seiner Gesellschaftstheorie
Am 11. September 2003 wäre Theodor W. Adorno hundert Jahre alt geworden. Dies veranlasst zu einer Darstellung seines gesellschaftstheoretischen Ansatzes. Dieser Artikel möchte vorerst den Zusammenhang zwischen Adornos Vernunftkritik und seiner Vorstellung von Kunst darlegen, um dann, ausgehend von diesen theoretischen Überlegungen, seine Gesellschafts- und Wissenschaftskritik verständlich zu machen. Grundlegendes Motiv der Gründer der Kritischen Theorie war, sowohl einem sozialwissenschaftlich forschenden als auch einem sozialphilosophisch reflektierten Anspruch gerecht zu werden, um damit die spätkapitalistische Gesellschaft zu verstehen und sich kritisch darüber verständigen zu können. Wissenschaft wird dabei als immanent politisch aufgefasst und muss zur gesellschaftlichen Praxis kritisch Stellung beziehen, damit auf eine menschliche Einrichtung der Gesellschaft hingearbeitet werden kann.
SOZ-MAG Beitrag von Lucas Gross
Dieses Bestreben lässt sich nach Adorno nur in der dynamischen Bewegung negativer Dialektik denken, also nur als offener Prozess, und ist wesentlich auf seine historischen Erfahrungen zurückzuführen, die auf seine Theoriebildung Einfluss hatten. Jedoch war Adorno sich bewusst, dass Erfahrungen nichts unmittelbares darstellen: Deren Reflexion ist deshalb nicht zu vernachlässigen, da der Begriff der Erfahrung immer schon einen historisch und gesellschaftlich geprägten Erfahrenden, sowie ein ebenfalls gewordenes Erfahrendes impliziert, die wiederum nur begrifflich vermittelt in bestimmten Verhältnissen zu sehen sind. Nationalsozialismus, Stalinismus und Kulturindustrie charakterisieren eine Zeit, die sich als fortschrittlich und aufgeklärt begreift und beansprucht, es zu sein. An Versöhnung und Synthesis ist nicht zu denken. Vielmehr zeigt sich eine Unterdrückung und Nivellierung des Individuums im Zuge der Gesellschaftsentwicklung. An ein positives Potential der kapitalistischen Gesellschaft durfte nicht mehr geglaubt werden, und die Hoffnung, dass eine Emanzipation in Folge der Produktivkraftentwicklung und deren Einsetzung für eine befreite Menschheit sich ereignen würde, erwies sich als Trugschluss. Nun musste es darum gehen, Marx` Prognose des Übergangs in eine emanzipierte Gesellschaft zu überdenken, in dem Sinne, dass seine Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft erweitert wurde, um eine Theorie aufzustellen, die adäquat die stattfindende soziale Integration neu zu erklären und dessen "Kitt" aufzuzeigen vermochte.
Die Analyse setzt dafür beim Subjekt selbst und damit bei der Vernunft an. Im Folgenden wird vorerst von Adornos Grundgedanken eines "Rationale[n] Revisionsprozess[es] der Vernunft" (PT I, S.87) ausgegangen: Vernunftkritik muss von der Vernunft selbst geübt werden. Dabei ist die Frage nach dem sich ergebendem Spannungsverhältnis zwischen der Notwendigkeit begrifflich-identifizierender Setzung, um von etwas Bestimmtem reden zu können, und der als eine offene zu verstehende negative Dialektik zu erörtern.
Verdinglichung und öffnende Dialektik
Die in der "Dialektik der Aufklärung" umrissene Urgeschichte des Subjekts nimmt ihren Anfang beim Aspekt der Trennung von Subjekt und Objekt als Bedingung von Reflexion und der damit verbundenen Identitätslogik der vom Subjekt dafür notwendigerweise eingesetzten Begriffe. Die Hypothese lautet, dass Aufklärung als Bedingung von Freiheit gleichzeitig in sich schon das Moment von Herrschaft trägt (GS 3, S.13). Aufklärung, d.h. die Entwicklung der Menschheitsgeschichte als Ausbruch aus Naturverfallenheit und Schicksalsglauben, erfordert ein Reflexion ausübendes Subjekt, um Emanzipation voranzutreiben. Dies verlangt, dass das Subjekt aus Distanz sich um das Objekt "kümmern" kann: Seiendes muss verfügbar gemacht und sinnhaft begriffen für den Austausch unter den darüber reflektierenden Subjekten eingesetzt werden können. Die dadurch unter begriffliche Abstraktion gebrachte innere und äussere Natur wird nun kontrollierbar und erklärbar und ermöglicht Selbsterhaltung. Eine unreflektierte Naturbeherrschung verkehrt die Aufklärung jedoch in einen Verblendungszusammenhang: Ein Denken, das durch abstrakte Zuordnung Seiendes zu Äquivalenten macht, also zu Tauschbarem und Anwendbarem, erhebt eine instrumentell auf Verwertung und Nützlichkeit ausgerichtete Vernunft blindlings zum Herrschaftsprinzip. Die Menschen selbst treten unter diesen Umständen nur noch als Objekte von Tauschbeziehungen in Erscheinung, d.h. auch ihre Beziehungen zueinander gerinnen zu bloss verdinglichten. Die Grundlage für die Kraft der Vernunft entspringt also im begrifflichen Denken.
In der "Negativen Dialektik" wird die Einheit des Subjekt als ein "systemstiftendes Ich-Prinzip" mit seinen "zurüstenden und abschneidenden" (GS 6, S.36 und S.21) Werkzeugen, den Begriffen, charakterisiert. Begriffe identifizieren, verallgemeinern und subsumieren: Dabei wird weggeschnitten, was sich ihm nicht fügt. Der begrifflich objektivierende und systembildende Geist ist daher schon seit seinem Erwachen (d.h., seit sich das Subjekt Distanz zur Natur verschafft hat und dadurch die Möglichkeit eröffnet wurde, sich ihr gegenüber zu verhalten) zur instrumentellen Vernunft verdammt als einer den Objekten von aussen sich aufdrängender und vereinnahmender. Jedoch soll damit eben nicht gesagt werden, dass Vernunft per se mit Herrschaft gleichgesetzt wird, und Adorno sich dadurch seines eigenen Fundamentes berauben würde. Denn diese beiden Momente einer beherrschenden und einer versöhnenden Vernunft gehören dialektisch der Vernunft an, so "dass Vernunft auf sich Vernunft anwenden" muss, also zur Selbstreflexion der eigenen Grundlagen als zweite Reflexion genötigt wird, um nicht eine der beiden Seiten zu verabsolutieren, respektiv um sich diesen bewusst zu werden (GS 10 II, S.627f.; GS 6, S.92). Im Zuge einer unreflektierten Emanzipation jedoch schlägt die erlangte Herrschaft über die Objekte auf das Subjekt zurück. Erkenntnistheoretisch kann hinzugefügt werden, dass Subjekt zugleich Objekt ist, da dieses auch ein zu Erkennendes ist, und daher das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt nicht dualistisch, sondern als ein dialektisch in sich und durcheinander Vermitteltes zu verstehen ist (GS 10 II, S. 741ff; GS 6, S. 172ff). Eine bloss instrumentell agierende Vernunft verkennt, dass sie in eine neue Abhängigkeit an Naturzwang, dem Tauschprinzip als nützlich sein für anderes, hinein gerät, bei dem untergeordnet und zugerüstet wird (GS 3, S.29). Ebenfalls lässt sie die Verdinglichung des Bewusstseins ausser Betracht: Dieses erkennt sich selbst und die soziale Wirklichkeit, von dessen Objektivationen es geprägt wird, vermittelt über die angewendeten begrifflichen Identifikationen. Da diese vom historischen und gesellschaftlichen Prozess herausgerissen und als erstarrte Momente die Wahrnehmung leiten, bedeutet dies immer schon eine Einschränkung der Erfahrung und der Einsicht in die Genese des Wahrgenommenen.
Um dem geschilderten begriffsimmanenten Problem der Identifizierung gerecht zu werden, muss unser Blick auf unseren Gegenstand ein dynamischer, erfahrender und auch dialektisch öffnender sein. Unser vernünftiges Denken ist jedoch nur mittels Begriffen möglich, da sich nur über Fassbares, also begrifflich Objektiviertes, denken bzw. reden lässt, sich also auch Kommunikation überhaupt erst durch Fixiertes einstellen kann. Daher muss sich das Denken selbst gegen die eigene und ihr immanente verdinglichende Tendenz wehren: "An ihr [der Philosophie, Anm. d. A.] ist die Anstrengung, über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen." (GS 6, S.27; PT I, S. 56) Es bleibt also bloss die Sisyphusarbeit durch Reflexion zu berichtigen, da der Begriff zum vornherein an einer idealistischen Vorentscheidung leidet, d.h. dass er als ein seinem Wesen nach Identifizierender das Objekt nach seinem Gedünken zurichten kann (GS 7, S. 382). Negative Dialektik will sich nun vor der Aporie - dass eben Selbstreflexion und Kritik der Vernunft auf die Instrumente der Vernunft und der Aufklärung angewiesen sind, dass also der Gegenstand der Kritik ihre eigene Grundlage darstellt - nicht drücken oder als eine sich über ihr befindliche geben: "Dialektik ist das Selbstbewusstsein des objektiven Verblendungszusammenhanges, nicht bereits diesem entronnen. Aus ihm von innen her auszubrechen, ist objektiv ihr Ziel." (GS 6, S.398) Als ein bestimmt negierendes, d.h. mit Bezug auf ein konkret historisch und im Zusammenhang begriffenes Moment, kann sich die negative Dialektik dem Identitätsprinzip nie entziehen, sondern es nur durchschauen, darlegen und miteinbeziehen. Dafür muss sie am Begriff und damit an der Sache selbst ansetzen. Durch das Umstellen des Gegenstandes mit Begriffen, um diese dann wieder von neuem zu umstellen, soll dem im Objekt aufgespeicherten Prozess Gerechtigkeit zukommen (GS 6, S.165f.): Das Objekt soll nicht schon zum vornherein durch eine versöhnende Synthesis zwischen Begriff und Gegenstand erstarren. Daher auch der zugestandene Vorrang des Objekts, um diesem mit gebotener Sorgfalt entgegen zu treten und um dadurch eine kritische Auffassung davon aufstellen zu können.
Als Platzhalter dessen, was sich der begrifflichen Identitätslogik entzieht, also das potentiell Andere, wird der Begriff der Nichtidentität gebraucht. Dabei soll "Nichtidentität das Telos der Identifikation" sein (GS 6, S. 152). Nichtidentität soll nicht als etwas irgendwo Vorhandenes oder Gegebenes verstanden werden, das die Erkenntnis bloss noch nicht erreicht hat, sondern ein Potential, das in diesem abstrakten Begriffen selbst enthalten ist: Es will über die abschlusshafte Fixierung hinauszugehen nötigen, d.h. dass negative Dialektik eben die von der Wirklichkeit stillgelegten Kategorien von Neuem öffnen will, um affirmative Setzungen vom Letzten und Absoluten zu durchbrechen.
Kunst als gesellschaftliche Antithesis zu Gesellschaft
Diese oben hergeleitete rationale Vernunftkritik unterliegt der Begriffslogik, d.h. als blosse geistige Abstraktion, potentiell auch noch dem gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang der Verdinglichung. Durch den Miteinbezug der ästhetischen Erfahrung in sein Denken erhofft sich Adorno, komplementär zur diskursiven Erkenntnis, die Aufforderung zu einer zweiten Reflexion in der Ästhetik zu erfahren: Die Menschen werden in der Kunst "dessen inne, was Rationalität vergisst und woran deren zweite Reflexion mahnt." (GS 7, S.105) Das Kunstwerk gleicht sich dem verdinglichten Leben an und stellt seine Entmenschlichung dar. Die Darstellung als Nachahmung (Mimesis) hat jedoch nichts mit einer blossen Verdoppelung der empirischen Realität gemein, in ihr soll im Gegenteil mögliche Nichtidentität Ausdruck finden, das Widersprüchliche und Unversöhnte soll zutage treten: "Ästhetische Identität soll dem Nichtidentischen beistehen, das der Identitätszwang in der Realität unterdrückt." (GS 7, S.14) Deshalb ist "in der verwalteten Welt [...] die adäquate Gestalt, in der Kunstwerke aufgenommen werden, die der Kommunikation des Unkommunizierbaren, die Durchbrechung des verdinglichten Bewusstseins." (GS 7, S.292) Die ästhetische Erfahrung ist als der praktische Vollzug von Adornos Rationalitätskritik, die sich wesentlich als Bewusstseinskritik versteht, zu begreifen.
Als ein gesellschaftliches konstituiert sich das autonome und avandgardistische Kunstwerk in Differenz zur Gesellschaft und will ihr in diesem immer wieder von neuem auszutragenden Loslösen aufzeigen, was von der objektiven Verwertungsrationalität als potentiell Anderes unterdrückt wird. Kunst besitzt daher einen Doppelcharakter: Sie ist Schein im Sinne von Ideologie als falsches Bewusstsein und Illusionierung, jedoch auch Vor-Schein auf unergriffene Möglichkeiten. Sie muss einerseits Utopie sein, andererseits darf sie es nicht, um Utopie nicht an Schein und Trost unter zwingend gegebenem gesellschaftlichen Funktionszusammenhang zu verraten, in dem Versöhnung real abwesend ist und den es ja zu durchdringen gilt (GS 7, S.55). Daher kann das Kunstwerk nur in einer um mögliche Versöhnung kreisenden Bewegung stattfinden, d.h., dass sich das Kunstwerk selbst negierend immer wieder von neuem der eigenen Unwahrheit als Schein und ihrer Gesellschaftlichkeit inne werden und sich dem ihr beigemessenen Sinn, d.h. den affirmativen begrifflichen Setzungen, entziehen muss, um nicht zu einer falsch befriedenden und Halt spendenden Verheissung zu verkommen. Sie muss als Stachel die Realität erschüttern.
Um uns jedoch auch zugänglich zu sein, ist sie paradoxerweise auf die philosophische Reflexion angewiesen: Diese versucht durch eine negativ umstellende Konstellation von Begriffen das Werk vergebens einzufangen, da dieses sich diesem Unterfangen fortlaufend entziehen muss, um seine spannungserzeugende Wirkung aufrecht zu erhalten. In dieser Aporie entfaltet sich ein Spannungsverhältnis wie in der Aporie der fortschreitenden negativen Dialektik. Es stellt sich eine Dialektik von Rationalität und Mimesis ein.
Der Begriff der Gesellschaft und positivistischer Wissenschaftsfetischismus
Da sich unser Gegenstand, das Verhältnis von Mensch, Gesellschaft und Natur, ein in sich und durcheinander begrifflich und historisch vermittelter und werdender ist, kann nun am Begriff der Gesellschaft diese dialektische Anschauung im Sinne Adornos exemplifiziert werden. Weil uns nun nichts denn durch unser Bewusstsein gegeben, ist eben auch alles immer schon ein gesellschaftlich Vermitteltes, in dem jeweils die ganze Geschichte schon enthalten ist. Dieser Immanenzzusammenhang zwischen Erkenntnis und realem Lebensprozess (GS 8, S.283) verbindet Soziologie und Philosophie. Soziologie soll begreifen, was den Betrieb aufrechterhält und soziale Ordnung stiftet. Sie ist Einsicht in das Wesentliche der Gesellschaft, "aber in einem solchen Sinn, dass diese Einsicht kritisch ist, indem sie das, was `gesellschaftlich der Fall` ist, [...], an dem misst, was es selbst zu sein beansprucht, um in diesem Widerspruch zugleich die Potenziale, die Möglichkeiten einer Veränderung der gesellschaftlichen Gesamtverfassung aufzuspüren." (ES S. 31) Die Trennung zwischen Wesen und Erscheinung ist dabei entscheidend (GS 8, S.291). Wesentlich sind die objektiven Bewegungsgesetze, d.h. die Strukturen der Gesamtgesellschaft, der Zusammenhalt des Ganzen, und die Frage, wohin sie führen. Man muss also "in den Fakten selber der Tendenz [innewerden], die über sie hinaustreibt."(GS 8, S.216). Wohlgemerkt bedeutet dies jedoch eben nicht ein wildes Spekulieren oder "Darauflosdenken", sondern verbindliche Tatsachenforschung aus den Erscheinungen heraus, um dann in der Interaktion zwischen Theorie und Erfahrung der Gesellschaftlichkeit der untersuchten Einzelgebieten inne zu werden (ES S. 185ff.), da Fakten "selber kein Letztes, sondern ein Bedingtes" sind (GS 8, S. 214).
Wenn Adorno von einem Begriff der Gesellschaft spricht, sind nicht verschiedene Grundtypen des Zusammenlebens, der Produktion und Reproduktion des Lebens der Menschen gemeint, sondern wesentlich das Moment der "Vergesellschaftung" angesprochen, d.h., dass ein Funktionszusammenhang zwischen den Menschen besteht (ES S. 55ff.). Und dieser Funktionszusammenhang ist durch den Tausch bestimmt. Das Tauschverhältnis gilt als strukturelle Grundbedingung, wodurch überhaupt Gesellschaftliches oder ein Zusammenschluss von Menschen zustande kommt. Die Menschen sind also einerseits als tauschende für andere da und wesentlich als arbeitende bestimmt, daher keine Ansichseiende, sondern bestimmt durch das Verhältnis, das zwischen ihnen waltet. Andererseits hat die Gesellschaft ihre Substanz an den Individuen, zwischen denen das Verhältnis sich generiert und erhält, nur durch die Einheit der von diesen erfüllten Funktionen. Der Begriff der Gesellschaft muss diesem prozesshaften Wechselspiel gerecht werden und versteht sich daher als eine "Vermittlungskategorie" (ES S. 174), die weder das Moment des Individuums, noch dasjenige der gesamtgesellschaftlichen Dynamik ausblendet. In einem dialektischen Sinne sollen die ineinander vermittelten, jedoch entgegengesetzten Momente behandelt werden. Es sollen "weder das Einzelne, die einzelnen Momente noch ihr Begriff für das wahrhaft Seiende [gehalten werden], sondern die beiden Pole als durcheinander vermittelt [betrachtet werden]." (ES S. 70)
Wie wir feststellen können, hat Adornos Denken eine doppelte Frontstellung inne: Einerseits zum spekulativen Ursprungsdenken der Metaphysik, und andererseits zum positivistischen Tatsachenfetischismus. Letzteres gibt ein anschauliches Gegenbeispiel zu Adorno ab, da das klassifikatorische Vorgehen der Positivisten, die sich ihre Kategorien als Ursprung setzen und dadurch die Sache nur als Spiegelbild der hineinprojizierten Kategorie erkennen, sich dem Gegenstand von aussen aufdrängt. Die Verallgemeinerung und Kategorisierung der Anschauung und Eindrücke errichten ein Schema der Ordnung: Die Empirie reduziert sich auf eine systematisch vorbestimmte und wird selbst als eine vermittelte nicht reflektiert (GS 8, S.280ff.). Darunter wird ein Fetischismus der Wissenschaft verstanden, d.h. "dass die Wissenschaft mit ihren Begründungszusammenhängen und immanenten Methoden sich zum Selbstzweck wird, ohne Beziehung auf das, womit sie sich abzugeben hat." (ES, S. 214) Dialektischem Vorgehen ist daher der Vorrang einzugestehen, da es sich auf die Empirie einlässt und ihr dadurch gerecht werden will, d.h. die vom Positivismus gesteuerte und kanalisierte Erfahrung wiederherzustellen beansprucht. Theorie will über das unmittelbar Gegebene hinausgehen, nicht bloss verdoppeln, ein Abbild des Vorherrschenden erstellen. Die gesellschaftlich vermittelten Prämissen müssen der Reflexion unterzogen werden und die Methode muss der Geschichtlichkeit des scheinbar Gegebenem inne werden.
Kulturindustrie und autoritärer Charakter
Die kapitalistische Gesellschaft wird nach Karl Marx vom universellen Warentausch geprägt. Die immanente Logik des Kapitals zielt auf Verwertung und damit auf Verwaltung und Disziplinierung der Einzelnen der Warenproduktion nachzukommen (vgl. KA). Der gebrauchte Begriff der Totalität als negative Kategorie charakterisiert den Zwangscharakter dieses Ganzen, unter dem die einzelne Person als blosser Bestandteil der Maschinerie fungiert. Von diesem objektiven Sachverhalt ausgehend, sind der "autoritäre Charakter" der Individuen, d.h. eine weit verbreitete Unterwürfigkeit, und die Mechanismen der "Kulturindustrie" als gesellschaftliches Integrationsinstrument kennzeichnend für die moderne Gesellschaft.
Die Unterwürfigkeit unter orientierungsstiftende und Sicherheit versprechenden Instanzen bilden bei Ersterem den Ausgangspunkt. Dabei stellen sich die Fragen, weshalb eine Emanzipation ausbleibt, obwohl die materiellen Bedingungen erreicht wären und weshalb sich Menschen empfänglich für faschistische Propaganda zeigen und sich dafür entscheiden. Unter Beeinflussung einer an Sigmund Freud orientierten Sozialpsychologie kann die These einer konformistischen Identität aufgestellt werden. Diese besagt, sich mit den Forderungen des vorherrschenden Alltags zu identifizieren, ermögliche eine Steigerung der Funktionsfähigkeit in dieser funktionalen Gesellschaft und dadurch das Überleben. Bei dieser Anpassung an das Realitätsprinzip wird auf das psychoanalytische Motiv der realitätsgerechten Verdrängung - das nicht Wahrhabenwollen der bedrohlichen auf Verwertung ausgerichteten sozialen Realität und das Ausblenden der eigenen Vorstellungen - Bezug genommen. Die Konsequenz daraus: Die Ich-Schwachen Individuen (d.h. diejenige, deren Ohnmacht ihr reflexives Bewusstsein lahm gelegt hat) der verwalteten Welt können keine Über-Ich Instanz, d.h. Gewissen, generieren und somit keine Beziehung zu inneren Triebregungen aufbauen, die im Zuge der Vergesellschaftung verdrängt werden müssen und dabei jedoch, im Es, unbewusst weiterwirken. Daher sind diese Individuen anfällig auf Orientierung versprechende Angebote, d.h. sie bedürfen einer äusseren Identifikation mit einer sich anbietenden Ordnung mit führender und entlastender Wirkung, um den Anforderungen des Alltags nachzukommen und um ihre Ohnmacht zu überbrücken (GS 8, S. 408ff; GS 9 I). Stereotype, einfache und wiederholende Klischees und Wertungen erleichtern das Zurechtfinden (SE, S. 159).
Auch die Kulturindustrie kann in diesem Sinne als ordnungsstiftend angesehen werden. Der Begriff wurde in den späten zwanziger Jahre entwickelt, wo durch Rundfunk und Fernsehen die technische Möglichkeit aufkam, ein Massenbewusstsein zu erzeugen. Die Thesen zur Kulturindustrie müssen jedoch als weiter "fortzusetzen" (GS 3, S. 336) verstanden werden, ohne jedoch an schärfe der Kritik an der heutigen Gesellschaft einzubüssen. In der Flucht vor dem reglementierten Alltag hält man sich am vermeintlichen Individualismus, der durch die Produkte vermittelt wird: Sie geben sich als Unmittelbarkeit von Leben und Freiheit. Das ganze Selbstverständnis der Einzelnen konstituiert sich über die Eigenschaften der Produkte, die daher auch wesentlich deren Bedürfnisstruktur prägen. Dabei interessieren die gesamtgesellschaftlichen Implikationen dieses Angebots an Unterhaltung und Freizeit, als eine `Zeit neben der Arbeit`: "Weder geht es um die Massen an erster Stelle, noch um die Techniken der Kommunikation als solche, sondern um den Geist der ihnen eingeblasen wird, die Stimme ihres Herrn." (GS 10 I, S.338) Vergesellschaftung findet innerhalb von Profit und Verwertungszwang statt. Das "Amusement ist die Verlängerung des Arbeitstages" (GS 3, S.158): Einerseits soll es die Arbeitskraft erholen lassen, also Reproduzieren, andererseits sollen die verdinglichten und standardisierten Kulturprodukte die "automatische Abfolge genormter Verrichtungen" (GS 3, S. 159) des Arbeitsvorganges einprägen. Dabei kann jedoch nicht von einer totalen Integration des Bewusstseins ausgegangen werden, sondern es muss von einem "gedoppelten" oder "widersprüchlichen" Bewusstsein gesprochen werden (GS 10 II, S.654f; ES S.256): Der angebotene Schund wird nicht nur ernst genommen, sondern kann durchaus auch kritisch eingeschätzt werden. Als Befriedigung und Ablenkung ist er jedoch unentbehrlich, um der scheinbaren Unveränderlichkeit und der Ungewissheit einen Sinn- und Orientierungshorizont entgegenzusetzen.
Das Eingedenken des Vermittlungszusammenhanges
Wie beschrieben wurde, geht es Adorno weder um eine sogenannte Flucht in die Ästhetik noch um ein Ausruhen auf seinem Urteil, dass es "kein richtiges Leben im falschen" gibt (GS 4, S.43). Es soll daher in seinem Sinne auch keine Verdinglichung der Verdinglichung geben, so dass sich einerseits kein Gedanke mehr denken lässt - Verstummen wäre fatal - und andererseits beim eigenen Ansatz die Dynamik stillgelegt wird: "Alle Verdinglichung ist ein Vergessen." (GS 3, S. 263) Daher ist negativ dialektisches Vorgehen nicht eine hypostasierte Anwendung eines bestimmten Denkansatzes als Methode: Die negative Dialektik ist sich dieses Zirkels bewusst, hebt ihn auf und müht sich an dieser Aporie ab. Sie denkt gegen sich selbst (GS 6, S.358) und verdinglicht ihre Bewegung nicht zu einer Ontologie; erstarrt nicht zur Ruhe oder zum Selbstzweck, der den Einspruch fetischisiert oder die aufgedeckten Tendenzen zu kategorischen Behauptungen erhebt. Auf der anderen Seite strebt sie auch nicht teleologisch auf etwas schon positiv ausgemaltes hin. Damit soll vorgebeugt werden, dass sich nicht eine neue Logik zum Prinzip, zum Ursprung erheben kann, von der aus das Denken sich ableiten lässt; oder ein erstarrtes Ziel Führung verleiht, von dem her sich Denken bestimmen lässt. Sie fungiert vielmehr als Korrektiv, das die Momente von notwendiger Setzung und ihrer Brechung eingedenkt, und den Widerspruch zwischen Begriff und Sache sowie Gesellschaft und Individuum freilegt. Dabei bewahrt sie vor totaler und abschlusshafter Identifikation in dem Sinne, dass dem Bewusstsein von Nichtidentität Identität in einem qualitativ anderen Sinn zukommt: Durch Selbstbesinnung wird sich das Bewusstsein der eigenen Regression bewusst.
Adornos Ansatz kann als bestimmter materialistischer Reflexionsmodus verstanden werden, weil dem Moment der Erfahrung und dem Impuls des Leidens eine wesentliche Rolle zugesprochen wird, die das Denken überhaupt erst in Gang bringt. Auf der praktisch-politischen Ebene ist negative Dialektik deshalb als eine "Verhaltensweise" zu verstehen, die "an kein Unmittelbares sich klammert" (GS 6, S. 26ff.), denn die Erfahrung des Zerfalls erinnert daran, wie oft das als ein wahres sich gebendes sich als ein barbarisches entpuppte. Um vor erneuter Regression zu bewahren, handelt es sich bei dieser Haltung um die Aufforderung der "Rettung des Subjekts" als einziges Potential für Veränderung, um der Gesellschaft, die sich als unabänderliche und naturgegebene gebärdet, Einhalt zu gebieten. So könnten die Verhältnisse, die das Individuum zu Ohnmacht und Apathie verdammen, vielleicht überwunden und politisch geschaffenes Leiden abgeschafft werden - damit "Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe." (GS 6, S.358) Die Auseinandersetzung mit Adornos Denken bleibt unumgänglich, um kritische Theoriebildung fortzusetzen.
Lucas Gross studiert im neunten Semester Soziologie an der Uni Zürich. Seine Nebenfächer sind Philosophie und VWL.
Literaturauswahl
GS Adorno, Th. W.: Gesammelte Schriften. Suhrkamp Verlag, 1997.
ES *Adorno, Th. W.: Einleitung in die Soziologie. Nachgelassene Schriften Abt. IV Bd. 15. Suhrkamp Verlag, 1993.
PT *Adorno, Th. W.: Philosophische Terminologie (2 Bde). Suhrkamp Verlag, 1973.
SE *Institut f. Sozialforschung: Soziologische Exkurse (Hrsg. von Adorno/Horkheimer). EVA, 1991.
KA Marx, Karl: Das Kapital Bd. 1-3. MEW Bd. 23-25. Dietz Verlag, ab 1962.
* für einen Einstieg geeignet
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