soziologie.ch

 
  • Increase font size
  • Default font size
  • Decrease font size
soziologie.ch soz:mag#4 krise im salon

krise im salon

E-Mail

Rekonstruktion von Bewährungsstrategien junger Coiffeure

"Also ich glaube, ich habe extrem gelernt, auf die Leute einzugehen, ich habe ein Einfühlungsvermögen. Und das ist halt das, was dem Coiffeur eine grosse Stammkundschaft bringt oder einen grossen Kreis, der für dich schwärmt, weil du diese Leute spürst und denen das machst, was sie gern haben." So umschreibt Antonio Camponovo, ›Hairdesigner‹ und ›Colorationsspezialist‹, sein Erfolgsrezept. Anhand zweier Fallbeispiele befasst sich dieser Artikel mit der Frage, wie sich junge selbständige Coiffeure in ihrem Beruf bewähren und welche Bedeutung dem Beruf zur Lösung des Bewährungsproblems, das sich uns allen stellt, beikommt.

SOZ-MAG Beitrag von Andrea Hungerbühler

Was sind das für Leute, die sich heute im Feld des Coiffeurberufes bewegen und einen eigenen Salon führen? Welches sind ihre Motive für die Berufswahl, wie sieht ihr Werdegang aus, wie ihre Positionierungsleistungen im Feld und wie gestaltet sich ihr berufliches Selbstverständnis? Mit welchen Problemen haben sie zu kämpfen, in welcher Art und Weise versuchen sie diese zu bewältigen und wie steht es um die Genese und die Erfolgsaussichten ihrer Bewährungsstrategien?

Die Untersuchung dieser Fragen basiert auf vier Fallanalysen, denen offene Interviews mit selbständigen Coiffeusen, zwischen dreissig und vierzig Jahren, zugrunde liegen. Die Auswahl der Fälle erfolgte entlang zweier a priori festgelegter Kontrastlinien, dem Geschlecht und der Modernität des Salons. Die Interviews wurden mit der Methode der Objektiven Hermeneutik (Oevermann 2000) analysiert. In diesem Artikel stelle ich zwei der vier Fälle - die beiden ›modernen‹ - hinsichtlich der Frage vor, wie sie sich dem Bewährungsproblem stellen.

Die Bewährungsproblematik

In seinem ›Strukturmodell der Religiosität‹ führt Ulrich Oevermann (1995) die Bewährungsproblematik aus, die sich uns Menschen stelle. Demnach ist die menschliche Lebenspraxis durch zwei miteinander im Widerspruch stehende Einheiten gekennzeichnet, dem ›Entscheidungszwang‹ und der ›Begründungsverpflichtung‹. In krisenhaften Situationen, in denen der Akteurin keine routinisierten Lösungen zur Verfügung stehen, ist sie gezwungen, mit dem Anspruch auf Begründbarkeit eine Entscheidung zu treffen, ohne eine vernünftige Begründung angeben zu können. Aus dem Bewusstsein über die Endlichkeit des Lebens und der zukunftsoffenen krisenhaften Praxis ergibt sich für uns Menschen ein nie endgültig lösbares Bewährungsproblem. Indem das Subjekt versucht, die ihm bewusst werdende Bewährungsproblematik zu lösen, stellt es die Unerfüllbarkeit der Bewährungsaufgabe fest. Um dieses Paradox aushalten zu können, benötigt der Mensch einen ›Bewährungsmythos‹, der die drei Fragen, Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? zu beantworten vermag. Für religiöse Kulturen können dies Schöpfungs- oder Erlösungsmythen sein, für säkularisierte Kulturen wie die unsere sind es Ethiken, die auf eine diesseitige Autonomie bezogen sind. Der zentrale Bewährungsmythos der bürgerlichen Gesellschaft sei, so Oevermann (2001), eine moderne Leistungsethik - ein Bewährungsmythos indes, der angesichts der aktuellen Krise unserer Arbeitsgesellschaft seinen Zweck nicht mehr zu erfüllen vermag.

Hinsichtlich der Coiffeusen interessiert sodann zum einen, welche Bedeutung der Beruf für die individuelle Lebensgestaltung hat und inwiefern der Beruf im spezifischen Fall zur Lösung des Bewährungsproblems beiträgt. Zum anderen frage ich - ausgehend von der Vermutung, dass die Leistungsethik in unserer Gesellschaft nach wie vor der dominierende Bewährungsmythos darstellt - nach dem Gelingen der berufsinhärenten Bewährung, also letztlich nach dem beruflichen Erfolg.

Für Coiffeure besteht das berufsinhärente Bewährungs-problem darin, neue Kundinnen zu akquirieren und sie an den Salon zu binden. Ersteres geschieht im Coiffeurmetier hauptsächlich über die Reputation, die sich in Form von Mund-zu-Mund-Propaganda verbreitet. Die Vermittler dieser Propaganda sind meist Kunden, die von einer Coiffeuse überzeugt und ihr treu sind. Um diese Kundentreue zu erreichen, gilt es, sich in der Situation der ›Unmittelbarkeit‹ zu bewähren. Das Verhältnis zwischen Coiffeur und Kundin ist in dreifacher Weise durch Unmittelbarkeit gekennzeichnet. Erstens muss sich der Coiffeur mehrmals am Tag - mit jeder Kundin von neuem - bewähren. Stündlich beginnt er sein neues Werk und stündlich hat er ein Resultat seines Schaffens vor sich. Zweitens ist die körperliche Nähe zwischen Coiffeuse und Kunde für den Coiffeurberuf bezeichnend: Während der ganzen Interaktion berührt die Coiffeuse den Körper ihres Kunden. Drittens betrifft der Zweck der Interaktion den Körper selbst. Der Coiffeur soll - um mit Goffman (1998) zu sprechen - die ›persönliche Fassade‹ seiner Kundin verändern und ist somit ihr Komplize bei deren Inszenierung im Theater des Alltags. Für den Coiffeur heisst das, dass es nicht reicht, eine gut geschnittene und gefärbte Frisur zu produzieren. Er muss das Vertrauen der Kundin gewinnen und eine Frisur herstellen, die ihr gefällt, ihren Vorstellungen entspricht und die ihr intendiertes Erscheinungsbild unterstützt. Die erfolgreiche Bewältigung dieser Situation der Unmittelbarkeit stellt für den Coiffeur eine grosse Herausforderung dar. Dazu ist eine hohe Flexibilität erforderlich, was das Eingehen auf Kunden betrifft, handwerkliches Geschick, ein Sinn für Ästhetik für das Gestalten der Frisur, Einfühlungsvermögen, wenn es darum geht zu erfassen, welchen Eindruck eine Kundin im Alltagstheater zu vermitteln trachtet, und die Erzeugung einer Atmosphäre, in der sich die Kundin wohl fühlt.

Antonio Camponovo

Antonio Camponovo kommt 1966 als Sohn süditalienischer Einwanderer in Liestal zur Welt. Nach der Realschule entscheidet er sich für eine Lehre als Damencoiffeur. Er absolviert die Zusatzlehre als Herrencoiffeur beim damals renommiertesten Salon in Basel, wo er fünf Jahre als ›Assistent‹ angestellt ist. Darauf verbringt er ein Jahr als angestellter Coiffeur in Zürich und führt während eines Jahres ein Geschäft in Fribourg. 1991 geht er als Freelancer nach Paris und Mailand, wo er von bekannten Modeschöpfern angestellt wird, um an ihren Modeschauen zu frisieren. Im selben Jahr eröffnet er zusammen mit seiner Frau Giuseppina, die ebenfalls Coiffeuse ist, den Salon ›Do it‹ in Basel. Seit der Saloneröffnung nimmt er an diversen Shows, am Hair World Congress und an einem WM-Finale teil und organisiert regelmässig eigene Events.

Antonio führt seine Berufswahl auf ein Gefühl der Berufung zurück, das sich schon in seiner Kindheit manifestiert habe. Er attestiert sich angeborene Intuition, ein Flair für Mode und Genialität. Objektiv vollbrachte er einen beachtlichen Aufstieg vom Coiffeurlehrling der Provinz zum Friseur auf internationalem Parkett. Gerne erzählt Antonio diese Erfolgsgeschichte und stilisiert sich dabei als Figaro, der sich nach dem Muster ›vom Tellerwäscher zum Millionär‹ hocharbeitete. Als Gründe für die Selbständigkeit nennt Antonio finanzielle Motive, vor allem aber sein Bedürfnis, seine Zeit frei einteilen zu können, und jederzeit die Möglichkeit zu haben, im Ausland einen Auftrag anzunehmen oder sich ein ›Time-out‹ zu gönnen, um neue Projekte zu planen oder zu verwirklichen.

Antonio bezeichnet seinen Beruf als sein Hobby und dieses umfasst weit mehr als die Arbeit mit Haaren. Er entwirft Marketingstrategien, inszeniert Fotos, verfasst Werbetexte, choreographiert Shows und organisiert Events. Dabei vergisst er nie, sich selbst in Szene zu setzen, so dass er - zumindest in Ansätzen - zu einer lokalen Kultfigur geworden zu sein scheint. Antonio ist, ständig nach vorne blickend, in Sachen Mode an vorderster Front. Er ist kein billiger Nachahmer neuer Trends, sondern spürt diese auf und setzt sie kreativ um, womit er den Status eines Trendsetters einnimmt.

Als Coiffeur scheint ihm ein beachtlicher Erfolg beschieden zu sein. Sein Terminkalender ist nicht selten über Wochen ausgebucht und seine Kundschaft, zu der Prominente ebenso gehören wie ›einfache‹ Leute, ist bereit, eine längere Wegstrecke für den Coiffeurbesuch zurückzulegen und dafür einen beachtlichen Preis zu bezahlen.

Aus dem Fallmaterial lässt sich für Antonio den Habitus eines Genies rekonstruieren. Es stellt sich die Frage, wie er im direkten Kundenkontakt die Gefahr der Unnahbarkeit zu vermeiden vermag, die sich für einen Schöpfer mit einem solchen Habitus stellen kann, und die für die Bewältigung der Situation der Unmittelbarkeit hinderlich wäre. Antonio schafft dies, indem er seinen Salon als Backstagebereich einer Modeschau inszeniert, also jenen Bereich hinter der Bühne, in dem die Models auf ihren Auftritt vorbereitet werden. Zwischen dem Haarkünstler und dem Model, an dem er arbeitet, herrscht in jenem Raum eine intime Nähe. Im Gegensatz zur Bühne, auf der das Model eine Figur verkörpert, begegnen sich Coiffeur und Model auf dieser "Hinterbühne" (Goffman 1998) ›ungeschminkt‹. Sie können ›sich selbst sein‹, es wird ›einfach gearbeitet‹. Diese Atmosphäre, die sich gerade durch Nichtinszenierung auszeichnet, soll also im Salon ›Do it‹ inszeniert werden. Bei Antonio trifft die Kundin in der lockeren Backstage-Atmosphäre sozusagen hinter der Bühne auf den Star und kann sich so selbst als Model fühlen. Diese Inszenierung von Freundschaft lässt bei der Kundin den Eindruck einer einzigartigen Insiderbeziehung entstehen, die sie mit Stolz erfüllt. Antonio seinerseits versteht es mit seiner charismatischen Art ohne sich anzubiedern, die Person vor ihm für sich einzunehmen.

Das Gelingen einer solchen Darstellung hängt in einem Salon, in dem mehrere Coiffeure arbeiten, von einem gut funktionierenden "Ensemble" (ebd.) ab, das es schafft, eine gemeinsame Rolle aufzubauen, eine "Parteilinie" (ebd.) zu haben, die von allen respektiert wird, und gegenüber dem Publikum, also den Kundinnen, einen bestimmten Eindruck zu vermitteln. Neben Antonio und Giuseppina arbeiten im Salon ›Do it‹ sechs Coiffeusen und Coiffeure. Um ein funktionierendes Ensemble zu erhalten, achtet Antonio bei der Auswahl neuer Mitarbeiterinnen in erster Linie, darauf, ob die Person menschlich ins Team passt. Ist sie erst einmal im Team, muss sie eine Phase der Initiation durchlaufen, in der sie vom ›Meister‹ und ›Regisseur der Darstellung‹ in seine Kunst eingeweiht wird.

In seinem beruflichen Selbstverständnis versteht sich Antonio nicht in erster Linie als Handwerker, sondern als Mode-schaffender und Künstler. Er vollzieht eine Professionalisierung der künstlerischen Seite seines Berufs und ist als lokal verankerter erfolgreicher Geschäftsinhaber gleichzeitig Unternehmer.

Lena Selig

Die 1966 als Tochter eines Beamten und einer Hausfrau geborene Lena Selig wächst in der Agglomeration von Basel auf. Nach der Sekundarschule macht sie ein Zeichnungsjahr und absolviert entgegen der Empfehlung des Berufsberaters, der ihr den Besuch des Gymnasium nahe legen will, eine Lehre als Herrencoiffeuse. Nach diversen Auslandaufenthalten, temporären Anstellungen in verschiedenen Salons und einer halbjährigen Berufstätigkeit in einem Salon in der Westschweiz, arbeitet sie für vier Jahre in einem Salon in Basel, der in jener Zeit als ›in‹ gilt und zu den aussergewöhnlichsten der Stadt zählt. 1993 beginnt sie als Angestellte im Salon ›Coiffe Coiffe‹ zu arbeiten, den sie zwei Jahre später zusammen mit ihrer Arbeitskollegin und Freundin Denise übernimmt. Zeitgleich mit der Geschäftsübernahme erfolgt der Umzug des Salons in ein neu renoviertes Industriegebäude. Neben Lena und Denise sind im ›Coiffe Coiffe‹ heute vier weitere Coiffeusen beschäftigt. Zum Befragungszeitpunkt plant Lena den Ausstieg aus dem ›Coiffe Coiffe‹ und die Eröffnung eines eigenen Salons.

Lenas Berufswahl liegt zum einen eine Verweigerungshaltung und zum andern ein tiefes inneres Interesse für die ästhetisch-inszenatorische Seite des Berufs zugrunde. Sie plant ihre Berufsbiographie nicht strategisch, sondern ›tingelt‹ durchs Leben. Sie beschränkt ihre Einbindung in offizielle Strukturen auf ein Minimum, entzieht sich auf ihrem beruflichen Werdegang jeglichen Zwängen, die einer konventionellen Laufbahn entspringen könnten, und vertraut voll und ganz ihrem eigenen Gutdünken. Ihr Leben steht nie im Dienste der Arbeit, sondern sie richtet sich ihre berufliche Situation stets so ein, dass sie sich wohl fühlt. Ihrem Entscheid, sich selbständig zu machen, liegen weder ökonomische Motive noch solche des sozialen Aufstiegs zugrunde, sondern ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Autonomie und Selbstbestimmung.

Lenas Salon ist Teil einer ›Szene‹, in der sie selbst Szenegängerin ist. Ihr Salon ist als Lokalität Treffpunkt der Szene und sie ist als Coiffeuse für einen wichtigen Aspekt der Szenemitglieder zuständig - die Ästhetisierung. Diese Ästhetik orientiert sich nicht ausschliesslich an internationalen Modelinien, sondern eher an Trends aus der Subkultur. Lena misst dem handwerklichen Aspekt ihres Berufs eine wichtige Bedeutung zu. Dabei rekurriert sie auf das ›alte‹ Handwerk, das seit Generationen praktiziert wird, und auf dessen Tradition. Dem Rückgriff auf das Alter liegt kein kulturpessimistischer Konservativismus zugrunde, er ist Programm: Lena belebt Altes, kombiniert es mit Neuem und lässt es so wieder zum Trend werden. Der künstlerische Aspekt, der dem Coiffeurberuf gemäss ihrem Berufsverständnis auch eigen ist, bezieht sich nicht so sehr auf die Mode, sondern auf das alte (Kunst-)Handwerk.

Bei Lena Selig ist im Interview durchgängig eine latente Verweigerungshaltung spürbar. Lena ist ständig darauf bedacht, sich nicht zu stark einbinden zu lassen, und entzieht sich permanent Zwängen jeglicher Art, weshalb für sie der Habitus der Autonomen rekonstruiert werden kann. Hinsichtlich des berufsspezifischen Bewährungsproblems äussert sich dies derart, dass Lena mit der Einrichtung des Salons, mit ihrer Selbstdarstellung, dem Modeideal, das sie vertritt und den Frisuren, die sie ihren Kundinnen schneidet, nicht von anderen Vorgefertigtes nachvollzieht, sondern ihre eigenständigen Vorstellungen verwirklicht. Lenas Bewährungsstrategie basiert weder auf Bildungstiteln, Wettbewerbsauszeichnungen noch auf Teilnahmen an internationalen Shows. Da ihre Kunden sich aus derselben Szene rekrutieren, der sie selbst angehört, und demnach aus derselben Lebenswelt stammen wie sie, muss sie den ›Draht‹ zu ihnen nicht erst herstellen. Wer den Laden betritt, zählt quasi schon zum Freundeskreis. Lena fällt es deshalb leicht, das intendierte Erscheinungsbild einer Kundin zu erraten und es mit ihrer Arbeit zu unterstützen. Ihre Kunden überzeugt sie in erster Linie mit ihrem unfehlbaren Sinn für Ästhetik und dem Lebensgefühl, das sie im Salon vermittelt.

Mit dieser Bewährungsstrategie ist Lena im Heute erfolgreich. Als in der Gegenwart lebende, gegenüber ihren Kundinnen und äusseren Zwängen Autonomie bewahrende Person lässt sie dieser Erfolg insofern kalt, als er nicht Hauptziel ihres beruflichen Handelns ist. Der Gedanke an sein mögliches Ende beunruhigt sie nicht. Sie vertraut ihrer intuitiven Fähigkeit, den Zeitgeist zu erfassen, und ihrem sich scheinbar natürlich bildenden und verändernden Netzwerk.

Eine solche Strategie funktioniert nur, wenn die Ensemblemitglieder die gleichen ästhetischen Vorlieben und denselben intuitiven Sinn für das Richtige teilen, so dass sie sich gewissermassen wortlos verstehen. Ein solches Verhältnis herrschte zwischen den Freundinnen Lena und Denise. Mit der Vergrösserung des Teams, die sich wegen des Kundenansturms aufdrängte, tauchten jedoch Probleme auf. Lena und Denise fiel es schwer, plötzlich Dinge, die zuvor selbstverständlich waren - ihr gelebtes Konzept -, zu formulieren und zu kommunizieren. Die neuen Teammitglieder hätten sich dieses Konzept als etwas ihnen Entrücktes und Aufgesetztes aneignen müssen, was nicht klappte. Schliesslich wurden die einst selbständig und frei arbeitenden Geschäftsführerinnen durch die Vergrösserung des Teams in ein Hierarchieverhältnis eingebunden. Sie waren nun als Arbeitgeberinnen gezwungen, Verantwortungen zu übernehmen, die ihnen nicht behagten. So erstaunt es nicht, dass Lena zum Zeitpunkt des Interviews die Eröffnung eines eigenen Salons plant, in dem sie alleine arbeiten wird und in dessen Hinterzimmer sie für sich ein Atelier einzurichten gedenkt.

Aufstieg und Selbstverwirklichung

Ich bin im Feld auf vier unterschiedliche Bewährungs-strategien gestossen, von denen ebenzwei vorgestellt wurden. Keine der Strategien kann als die einzig richtige bezeichnet werden und keine garantiert den sicheren Erfolg. Bei den Analysen sind jedoch Eigenheiten des Berufs und des Feldes zutage getreten, auf die es für eine erfolgreiche Bewältigung des Bewährungsproblems einzugehen gilt. Ein wichtiges Strukturmerkmal des Coiffeurberufes ist die ständige Veränderung. Sie ergibt sich nicht nur aus den technischen Neuerungen in der Haarkosmetik, sondern vor allem aus dem gesellschaftlichen Wandel und den daraus hervorgehenden Modeströmungen. Im Coiffeurberuf überlebt nur, wer sich auf die eine oder andere Weise mit diesem Wandel auseinandersetzt. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten. Die Flexibilität kann quasi von innen kommen wie bei Lena Selig, deren dynamische Grundhaltung sich in einer der Intuition folgenden eigenständigen Auseinandersetzung mit der Aussenwelt manifestiert. Der flexiblen Grundhaltung mag eine Faszination für das Neue und für die Veränderung zugrunde liegen, ein inneres Angetriebensein und der Ehrgeiz, den Konkurrenten eine Nasenlänge voraus zu sein wie bei Antonio Camponovo. Sie kann aber auch Teil einer bewussten, rational begründeten Geschäftsstrategie sein, die in der Einsicht gründet, dass man sich in einem permanenten Konkurrenzkampf befindet und sich auf dem Markt stets von neuem positionieren muss. Einzig eine bewahrende, gar rückwärtsgewandte Haltung, die mit absoluten Wert- und Schönheitsvorstellungen und einer kulturpessimistischen Grundhaltung einhergeht, ist früher oder später zum Scheitern verurteilt. Eine solche ist beim vierten Fall Brigitte Leibundgut anzutreffen, die sich gegenüber Neuerungen verschliesst.

Die ständige Veränderung des Feldes führt dazu, dass das Älterwerden für einen selbständig erwerbenden Coiffeur tendenziell zum Problem wird. Ein Coiffeur baut sich seine Stammkundschaft in jungen Jahren auf. Sie altert mit ihm. Fast notgedrungen wird er hinsichtlich der aktuellen Modetrends irgendwann nicht mehr auf dem neusten Stand sein, er wird an gewissen Techniken und Modeidealen festhalten, die er einmal gelernt und angenommen hat, und wird es müde werden, sich immer nach vorne auszurichten. Ein Teil der Kundschaft wird ihm erhalten bleiben, während ein anderer abwandert oder wegstirbt. Die Akquisition von neuen (jüngeren) Kundinnen dürfte ihm zunehmend schwer fallen. Handelt es sich bei einem Coiffeur nicht um eine ausserordentlich dynamische Person, die diesen Veränderungen gewachsen ist, so bleibt ihm nur, in Kauf zu nehmen, dass es mit seinem Geschäft bergab geht, oder er muss frühzeitig das Feld wechseln, wie es vielleicht Antonio Camponovo und Lena Selig tun werden.

Geht man mit Ulrich Oevermann davon aus, dass der Mythos der Leistungsethik in der gegenwärtigen Krise der Arbeitsgesellschaft einem neuen Mythos weichen muss, so stellt sich die Frage, inwiefern sich die untersuchten Fälle überhaupt noch der Leistungsethik verpflichtet fühlen. Am auffallendsten präsentiert sich diesbezüglich der Fall Lena Selig. Lenas Bewährungsstrategie zielt nicht hauptsächlich darauf ab, ökonomisch möglichst erfolgreich zu sein, das Geschäft zu vergrössern und den Umsatz zu erhöhen, sondern darauf, ihr persönliches Wohlbefinden zu steigern. An die Stelle der Leistungsethik scheint bei Lena tatsächlich ein neuer Bewährungsmythos in der Art des Prinzips der "authentischen Selbstverwirklichung" (Oevermann 2001: 37) getreten zu sein. Bei Antonio spielt der Aspekt der Selbstverwirklichung auch eine wichtige Rolle. Er hat allerdings als Bewährungsmythos die Leistungsethik noch nicht abgelöst. Obwohl Antonio grossen Wert darauf legt, sich schöpferisch ausleben zu können, sind für ihn die Rezeption seines Schaffens, die Reputation und schliesslich der ökonomische Erfolg von massgeblicher Bedeutung.

Die beiden vorgestellten Fälle zeigen, dass der Coiffeurberuf nicht notwendigerweise zur Prekarität führen muss und dass eine Bewährung darin sehr wohl möglich ist. Selbständig erwerbenden Coiffeusen kann er gar die Möglichkeit zum ökonomischen Erfolg aber auch zur künstlerischen Entfaltung und zur Selbstverwirklichung bieten.

Andrea Hungerbühler studierte Soziologie und Ethnologie an der Universität Bern. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Lehrerinnen- und Lehrerbildung an der Universität Bern und Dozentin für Soziologie an der Berufs-, Fach- und Fortbildungsschule Bern. Grundlage für den Artikel bildet ihre Lizentiatsarbeit, die unter dem Titel »Bewährung im Spiegel. Eine fallrekonstruktive Annäherung an den Coiffeurberuf« in der Schriftenreihe Kultursoziologie des Instituts für Soziologie erschienen ist.

Literaturauswahl

Oevermann, Ulrich (1995): Ein Modell der Struktur von Religiosität, in: M. Wohlrab-Sahr (Hrsg.), Biographie und Religion. Zwischen Ritual und Selbstsuche, Frankfurt a.M./New York: Campus.
Oevermann, Ulrich (2000): Die Methode der Fallrekonstruktion in der Grundlagenforschung sowie der klinischen und pädagogischen Praxis, in: K. Kraimer (Hrsg.), Die Fallrekonstruktion. Sinnverstehen in der sozialwissenschaftlichen Forschung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Oevermann, Ulrich (2001): Die Krise der Arbeitsgesellschaft und das Bewährungsproblem des modernen Subjekts, in: U. Oevermann; A. Franzmann; A. Jansen; S. Liebermann (Hrsg.): Eigeninteresse und Gemeinwohlbindung. Kulturspezifische Ausformungen in den USA und Deutschland, Konstanz: UVK.
Goffman, Erving (1998 [1959]): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München: Piper.

Attachments:
FileFile size
Download this file (sozmag_04_hungerbuehler.pdf)sozmag_04_hungerbuehler.pdf493 Kb
 

«Der gesellschaftliche Fortschritt lässt sich exakt messen an der gesellschaftlichen Stellung des schönen Geschlechts (die Hässlichen eingeschlossen).»

Karl Marx (1868) in einem Brief an Ludwig Kugelmann