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soziologie.ch soz:mag#5 "das wirklich neue wird im keim erstickt."

"das wirklich neue wird im keim erstickt."

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Ulrich Oevermann, Begründer der Forschungsmethode der Objektiven Hermeneutik, ist Professor für Soziologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Am Rande seines traditionellen Blockseminars am Berner Institut für Soziologie bot sich für soz:mag kürzlich die Gelegenheit, den Professionalisierungs- und Sozialisationstheoretiker zu treffen. Bei einer Portion Fisch mit feinen Salzkartoffeln und Salat im Restaurant „Mappamondo“ kam es zum Gespräch über die Hochschulreform, die Logik der Forschung, das Problem von Uni-Rankings, die Konkurrenz um den guten Studenten und die Vorteile der Zwiebel.

Interview: Denis Hänzi; Foto: Christian Leder

Herr Oevermann. Sie behaupten, die „Haltung“ der gesetzlichen Schulpflicht werde mehr und mehr auf die Universitäten übertragen. Was meinen Sie damit?
Was man beobachten kann ist, dass der Verschulungsgrad, die Verfachhochschulung, stark zugenommen hat. Die Grundstudien sind ja schon stark verschult. Wenn wir jetzt die Bachelor- und Master-Studiengänge bekommen, wird das die Verschulung nicht mindern, sondern eher noch verschärfen. Das Studium wird stärker geregelt, stärker standardisiert. Ich bin von meiner Sozialisation her eine ganz andere Universität gewöhnt. Im Laufe meines Berufslebens habe ich gesehen, wie die Verfachhochschulung sukzessive zugenommen hat.

Welche Uni stellen Sie sich denn vor?
Das wäre eben eine Universität, für die nach wie vor das Prinzip der Einheit von Forschung und Lehre konstitutiv ist.

Was heisst das?
Das bedeutet, dass man als Student in einer solchen Uni nicht Schüler, sondern lernender Kollege ist. Für mich war immer wichtig, dass die Forschung ein offener Prozess der Erkenntnisgewinnung an einem konkreten Gegenstand ist und man entsprechend nur in der Forschung – auch als Student – die Erfahrung von der Logik des besseren Arguments machen kann. Dass man angesichts des konkreten Forschungsgegenstandes erfahren kann, dass das bessere Argument – unabhängig vom Status, den der Autor des Arguments hat – das Einzige ist, was zählt.

Das bedingt eine spezifische Form der Lehre.
Ja. Die Universitätslehre muss eben durch die Logik der Forschung – und nicht umgekehrt: die Forschung durch die Logik der Lehre – geführt sein. Das wäre ja sonst eine Forschung zu illustrativen Zwecken. Das kann man sich etwa am Experiment klar machen: In der Schule haben Experimente die Funktion, eine bewährte Erkenntnis zu demonstrieren. In der Forschung haben die Experimente umgekehrt die Funktion, eine offene Frage zu klären, theoretisch konstruierbare Möglichkeiten mit der erfahrbaren Welt zu konfrontieren. Das ist immer ein offener, krisenhafter Prozess. Forschung ist nichts anderes als die Simulierung von Krisen.

Was macht in Ihren Augen, wenn man am Prinzip der Einheit von Forschung und Lehre festhält, ein erfolgreiches Universitätsstudium aus?
Erfolg würde dann im Wesentlichen heissen, dass man erfolgreich einen Forschungshabitus übernommen hat. Und zwar so, dass man nach dem Abschluss des Studiums in der Lage ist, autonom zu forschen. Oder diesen Forschungshabitus in einem Beruf der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse so durchzuhalten, dass man in der Lage ist, selbständig Krisen zu lösen. Daraus folgt auch, woran ich festhalten würde, die funktionale Differenz zwischen Fachhochschulen und Universitäten.

Die da wäre?
Fachhochschulen sind dazu da, auf der Höhe der gegenwärtigen Forschung ein Fachwissen zu vermitteln, so dass die Absolventen in der Lage sind, fachmenschlich dieses Wissen in der Praxis umzusetzen.

oevermann

Im Sinne einer problembezogene Anwendung?
Ja. Aber man muss die Ausbildung in der Fachhochschule nicht daran bemessen, dass jemand in der Lage sein muss, selbständig Grundlagenprobleme zu klären. Das bezeichne ich als funktionale Differenz. Aus dieser Differenz müssen aber keine Wertigkeiten erfolgen. Die halte ich für unsinnig. Das gegenwärtige Problem von Fachhochschulen und Universitäten könnte man lösen, indem man an der funktionalen Differenz festhält, aber die Differenzen bezüglich Bezahlung der Professoren, Mittelausstattung und so weiter hinfällig werden lässt. Eine Universität wiederum muss sich in ihren Leistungen auch nicht daran bemessen lassen, wie gut sie für den Arbeitsmarkt ausbildet. Eine Universität ist zur Forschung da. Zur Simulierung von Krisen, die dann zu Erkenntnissen führt.

Wird das mit der Einführung von Bachelor- und Masterstudium nicht tendenziell verunmöglicht?
In der gegenwärtigen Diskussion um Bachelor- und Masterstudium gibt es zwei Probleme. Erstens wäre bei uns die Einführung des Bachelor nur sinnvoll, wenn wir den Oberschulbesuch entsprechend verkürzen würden. Das Abitur war ja ursprünglich dazu da, die Studierfähigkeit nachzuweisen. Und zweitens ist unklar, ob der Bachelor als ein berufsvorbereitendes Anfangsstudium ausgelegt wird. Das halte ich für unsinnig. Wenn es diesen Zweck erfüllen soll, dann sind die Grundlagen für die Habitusformation schon gelegt. Wie will man denn da noch ein wissenschaftsbezogenes, die Einheit von Forschung und Lehre einbeziehendes Studium draufpacken? Das geht ja dann gar nicht mehr.

Wie könnte man denn verhindern, dass der Bachelor ein Forschungshabitus-Killer wird?
Indem man das Bachelorstudium als eine Vorbereitung im Sinne des Studium Generale versteht, über die man einen vorläufigen Abschluss bekommt und dann in vielfältigen Berufsfeldern eingesetzt werden kann. Das ist meines Erachtens auch das Einzige, was gegenüber Wirtschaft und Industrie Erfolg hätte.

Warum?
Wenn man sich mit Leuten aus dem Personalwesen unterhält, dann sind die sehr skeptisch, ob eine Berufsvorbereitung an der Universität überhaupt sinnvoll ist. Die sind viel eher daran orientiert, Leute mit einer guten allgemeinen Wissenschaftsausbildung zu bekommen, die sich dann im berufspraktischen Feld selbst spezialisieren.

Das wird mit der Bologna-Deklaration nur bedingt kompatibel sein.
Die Bologna-Erklärung ist da ziemlich offen. Die hat ja erst mal nur ein wichtiges Ziel: die Vereinheitlichung der Studiengänge in Europa. Das ist sinnvoll. Es muss eine grössere Vergleichbarkeit hergestellt werden. Und es muss erleichtert werden, dass die Studenten zwischen den Ländern hin- und herwechseln können. Ich habe den Eindruck, dass die Bologna-Erklärung für viele europäische Länder einen anderen Sinn hat als für die Deutschen. Nämlich, ein wissenschaftsorientiertes Hochschulstudium überhaupt erst zu ermöglichen.

Und die Deutschen?
Die Deutschen haben das als ein von den Wirtschaftskräften in diese Richtung getriebenes, praxisbezogenes Studium interpretiert. Aber die Bologna-Erklärung selber ist gar nicht so rigide. Das Bachelorstudium ist ein formales Strukturierungsprinzip, das wir ja mit der Unterscheidung zwischen Grund- und Hauptstudium tendenziell schon haben. Fraglich ist vielmehr, ob die Einführungsvorlesungen von den erfahrenen Forschern, die auch die Professorenstellen haben, gemacht werden sollen, oder eher von den wissenschaftlichen Mitarbeitern und vom Mittelbau. Ich bin der Meinung, dass gerade die Anfängervorlesungen von den erfahrenen Leuten gemacht werden müssen.

Wieso?
Damit die Anfänger sofort den Kontext der gegenwärtigen Problemstellungen sehen. In den Anfängervorlesungen müssen sie die Einheit von Forschung und Lehre realisieren. Sie müssen die aktuellen Probleme im Sinne einer breit konzipierten Grundlagenproblematik darbieten. In der klassischen, von Humboldt konzipierten Universität – an der ich nach wie vor festhalten würde – hat das Fachstudium exemplarischen Charakter. Die Hauptsache ist, wenn sie diesen Bachelor jetzt überall einführen, dass da noch ein Forschungshabitus vermittelt wird. Wenn das in den ersten sechs Semestern nicht der Fall ist, wie wollen sie den denn später vermitteln? Das halte ich für nicht möglich.

Wie interpretieren Sie in diesem Zusammenhang den Ruf nach Eliteuniversitäten?
Der drückt im Grunde schon aus, dass man davon ausgeht, dass die standardisierten Universitäten nicht mehr viel taugen und man jetzt für Forschungsleistungen Extraeinrichtungen braucht. Gegenwärtig haben ja – in Deutschland zumindest – die meisten Universitäten eine gesunde Mittellage. In Amerika haben sie es genau anders. Da haben sie etwa fünfzehn Eliteuniversitäten als Pyramidenspitze und am Fusse der Pyramide nur noch Schrott. Und die Eliteuniversitäten werden uns als Vorbild vorgestellt. Das impliziert dann, man könne dieses System hier realisieren, indem man nur die Eliteuniversitäten übernimmt. Das geht aber nicht. Man muss dann das ganze Pyramidalkonstrukt übernehmen, das heisst, den ganzen Schrott auch. Bei uns haben wir eher eine Art Zwiebelsystem mit einer soliden Mittellage, die auch nach wie vor existiert. Meines Erachtens sind wir aber gerade im Begriff, die zu zerstören.

Wie könnte man die Zwiebel denn retten?
Indem man das Grundprinzip der Humboldtuniversität belässt, und auch, indem man die funktionale Differenz zwischen Universitäten und Fachhochschulen beibehält, aber versucht, die Prestigedifferenzierung wegzunehmen.

Das bringt uns zum Problem von Evaluationen und Rankings.
Schauen Sie, diese ganzen Evaluationsgeschichten: Die evaluieren ja nicht, was die Leute gelernt haben. Da wird nur evaluiert, wie die Leute die Universität gefunden haben. Das ist eine PR-Massnahme. Das ist doch die alte Kiste. Wenn die Studenten in ihrer zwangsläufigen Krisenhaftigkeit, die erst mal ausbricht, wenn sie von der Oberschule an die Universität kommen, sich zurechtfinden müssen, dann finden sie natürlich kleine Universitäten gemütlich. Die sind in den Rankings immer relativ weit oben. Und natürlich die Grossstadtuniversitäten, weil die sind anonym, amorph und was weiss ich. Der ganze Frust und die Probleme gehen natürlich in die Evaluation ein.

Dann machen Rankings – vom PR-Effekt mal abgesehen – überhaupt keinen Sinn?
In Amerika ist das Rankingverfahren gerechtfertigt, entlang dieser Pyramide. Beim Zwiebelsystem aber ziehen sie von der Methode des Rankings her Differenzen auseinander, die eigentlich in dieser Deutlichkeit gar nicht vorliegen. Dann kommt beim Ranking natürlich etwas hinzu, was noch stärker für die Schwerpunktbildung gilt, die uns jetzt überall anempfohlen wird. Dieser berühmte Grundsatz: Stärken fördern, Schwächen abbauen.

Das tönt doch ganz vernünftig?
Das ist ein vernünftiges Prinzip, wenn es diejenigen zu bestimmen haben, die das überblicken können und auch gezwungen sind, sich kollegial darüber auseinander zu setzen. Wenn das jetzt aber auf die Ebene von Ministerialbürokratie und Bildungspolitik geht, dann tritt automatisch der Effekt ein, dass ein Institut, wenn es eine hohe Reputation hat, tendenziell seinen Höhepunkt schon überschritten hat, lange bevor die Reputation in der Öffentlichkeit angekommen ist.

Die bürokratische Trägheit verzerrt also das Bild?
Ja, genau. Wenn man auf der Ministerialebene diesem Grundsatz folgt, ist die Gefahr, dass die Schwerpunkte, die ihre Zeit eigentlich schon hinter sich haben, weiter gefördert werden. Das wirklich Neue aber, das noch gar keine Reputationschance hatte, wird im Keim schon erstickt.

Aus studentischer Sicht...
... ist natürlich die Eliteuniversität kritisiert worden. Im Sinne des Bildungsrechts für alle, im Sinne des Gleichheitsprinzips. Das finde ich alles richtig. Nur wird nicht genügend differenziert, dass es zwei verschiedene Eliteprinzipien gibt. Das eine wäre ein ökonomisches Eliteprinzip. Sie müssen genügend Geld haben, um die Universität besuchen zu können. Von der Herkunft her. Das andere Eliteprinzip ergibt sich aus der Sache selbst: Eine Universität, die auf Erkenntnisgewinn aus ist, erfordert eine hoch qualifizierte Arbeit. Das ist elitär im Sinne sachlicher Güte. Gerade die Universität mit sachlicher Güte wäre nun eine Möglichkeit, das soziale Ungleichheitssystem zu korrigieren.

Auf welche Weise?
Indem sie den Leuten, die wirklich gut sind, eine Chance eröffnet, ihre Fähigkeiten in die Tat umzusetzen – unabhängig davon, wie viel Geld sie haben und wie gut ihre Eltern gestellt sind.

Nun existieren ja für Leute aus unteren Schichten neben rein ökonomischen Zugangsschranken noch andere, „feinere“ Barrieren.
Ja, die prallen sozusagen an den ganzen selektiv wirkenden Kriterien ab. Meine Erfahrung ist aber, dass gerade Leute, die zwar all dieses Drumherum an bildungsbürgerlichen Qualifikationen – wie man zu sprechen hat, welche Opern man zu kennen hat und dieser ganze mentale Outfit – nicht mitbringen, aber begabt sind und sich als Forscher auch gut eignen würden, am ehesten eine Chance haben sich zu qualifizieren, wenn man sie möglichst schnell in einen Forschungsprozess hineinzieht. Da geht es nicht darum, wie gut der gekleidet ist und welchen Tonfall der drauf hat, sondern welche sachliche Leistung er bringt.

Das klingt gut. Die Realität sieht aber anders aus.
Auf der pragmatischen Ebene gibt es einen einfachen, wichtigen Punkt: Alle Universitätsreformvorschläge werden meines Erachtens nicht funktionieren, solange die Universität nicht in die Lage versetzt wird, sich selber die Studenten auszusuchen.

Die Uni soll bestimmen können, welche Studierenden ihr genehm sind?
Ja. Das wäre die Grundlage für ein vernünftiges Konkurrenzsystem unter den Universitäten. Die Konkurrenz um den guten Studenten. Das ist ein ganz entscheidendes Prinzip. Das wäre der Motor der Universitätsreform.

Und wer würde diesen Motor antreiben?
Ich meine, ein forschender Professor muss ein Interesse daran haben, guten Nachwuchs zu bekommen. Sein Kapital sind die guten Studenten – und die kriegt er nur aus einer guten Lehre. Es wäre eine Massnahme, welche die Belohnung guten Forschungsnachwuchses enthält. Der wiederum würde sich als Kapital für die Ausbildung der folgenden Studentengeneration ausmünzen. Dadurch würde eine Dynamik eröffnet. Solange wir uns die Studenten nicht selber aufgrund von Eingangsprüfungen oder Eingangsgesprächen aussuchen können, wird da gar nichts draus. Und den Numerus Clausus als Barriere zu errichten, ist ja höchst unbefriedigend. Da wird einfach pauschal die Abiturnote als prognostischer Indikator eingesetzt. Für viele Fächer, gerade für die Soziologie, ist das kein zureichender Indikator. Wir müssen an den Universitäten fächerspezifisch unsere eigenen Kriterien realisieren können. Solange das nicht geht, läuft mit der Universitätsreform gar nichts.

Informationen zu Ulrich Oevermann und der Objektiven Hermeneutik: http://www.objektivehermeneutik.de/

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«Es waren fragmentarische Forschungen, von denen letztlich keine vollendet wurde, ja nicht einmal Folgen hatte, zugleich zerstreute [...]. All das schleppt sich hin, geht nicht vorwärts, wiederholt sich und bildet kein zusammenhängendes Ganzes; im Grunde sagt es beständig das Gleiche, doch sagt es vielleicht auch gar nichts aus. In zwei Worten: es ist nicht schlüssig.»

Michel Foucault (1977): Intervista a Michel Foucault, in: A. Fontana / P. Pasquino (Hg): Microfisica del Potere: Interventi plitici, Turin, S. 55f.