Der Sport als gesellschaftliches Produktionssystem
Der moderne Sport bildet immer gesellschaftliche Strukturen und Bedeutungen ab. Das macht ihn zu einem geeigneten Gegenstand für soziologische Untersuchungen. Nun unterliegt aber das Sportsystem seit neuester Zeit einer umfassenden Kommerzialisierung. Dadurch halten Lifestyles und Modetrends in Form einer Vielzahl neuer Sportarten und Sportmotive Einzug. Soziale Differenzen scheinen dabei zunehmend hinter einer gewissen Unübersichtlichkeit zu verschwinden.
SOZ-MAG Beitrag von Hans Ramseier
Rund 100 Sportarten stehen heute den StudentInnen an der Universität Zürich zur Auswahl, die im Rahmen des Akademischen Sportverbands Zürich (ASVZ) Sport treiben. Die blosse Zahl könnte vermuten lassen, dass die Studierenden betreffend Sportangebot privilegiert sind. Aber in der „richtigen Welt“ ist das Angebot noch einmal um fast die Hälfte grösser, wie die Untersuchung „Sport Schweiz 2000“ von Markus Lamprecht und Hanspeter Stamm zeigt: die Befragten nennen dort insgesamt 141 verschiedene Sport- und Bewegungsformen. Wem ist diese Vielfalt zu verdanken? Zuerst zeichneten sich die englischen gentlemen des 19. Jahrhunderts mit grossem Erfindungsreichtum aus. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgte dann bei steigendem Wohlstand und vermehrt verfügbarer Freizeit der Einschluss neuer Bevölkerungsgruppen neben den traditionell Sport treibenden jungen Männern: für die Frauen wurden „feminine“ Sportarten bereitgestellt, für ältere Menschen wurden lifetime-Sportarten empfohlen. Mit dem Übergang von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft nahm die Bedeutung von körperlicher Kraft ab, während eine dynamisch-erfolgreiche Ausstrahlung wichtiger wurde, welche über das wachsende Segment des Fitnesssports angestrebt wurde. Die zunehmende Individualisierung brachte eine Verschiebung vom Wettkampfgedanken hin zu einem subjektivierten Leistungserlebnis („die eigenen Grenzen erfahren“) mit sich. Damit verbunden war eine Reihe neuer Sportarten. Eine eigentliche Explosion bedeutet schliesslich die zunehmende Kommerzialisierung des Sports seit dem Ende des 20. Jahrhunderts. Sie löste seitens der kommerziellen Anbieter einen Boom an sportlicher Innovation aus, wofür die zahlreichen, sich in rascher Folge ablösenden Trend- und Lifestylesportarten stehen. Das grosse Angebot an sportlichen Disziplinen verbindet sich heute mit einer ebenfalls wachsenden Zahl von Sportmotiven und Sportzwecken. Der Sport ist wohl von der „schönsten Nebensache der Welt“ zu einer Hauptsache geworden, die kulturelle und soziale Bedeutungsmuster spiegelt, in welcher wirtschaftliche Aspekte breiten Einzug genommen haben, und in denen selbst ein Verständnis von Sport als Religionsersatz denkbar wird. Mit der Formel „Sport zwischen Kultur, Kult und Kommerz“ verdichten Lamprecht und Stamm das Sportsystem auf ein Modell, das geradezu als „fait social total“ (Marcel Mauss) erscheint. Zumindest aber ist eine soziale und damit soziologische Relevanz für den Sport gegeben.
Kraft versus Stil
Im Buch „Die feinen Unterschiede“ von Pierre Bourdieu sind zwei Fotos abgebildet. Die eine zeigt den ehemaligen französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing in reifem Alter beim Tennisspielen. „Um seinen Stil zu vervollkommnen, nimmt er jetzt regelmässig sehr früh am Morgen Stunden in einem Club am Rande von Paris (...)“, vermerkt die Bildlegende. Die andere Fotografie zeigt einen jungen Mann aus einfacheren Verhältnissen in einer Body-Building-Pose in einem öffentlichen Park. Die beiden tun dasselbe, sie treiben Sport. Aber wie der Buchtitel andeutet, sind in den Bildern ein paar „feine Unterschiede“ enthalten, die soziale Differenzen bezeichnen. Diese zeigen sich in der gewählten Sportart, beim Rahmen, in dem der Sport betrieben wird, beim Körperschema, das im ersten Fall auf einen angemessenen Stil hin orientiert ist, im zweiten auf Kraft, und nicht zuletzt im Alter der Sportler. Für Bourdieu ist nun eine Sportpraxis immer die Folge des jeweiligen Habitus, eines „charakteristischen Dispositionssystems“ (Präferenzen, Haltungen, Handlungsmuster, Lebensbedingungen und Lebensstile, Zwänge und Freiräume etc.), das immer spezifisch für einen sozialen Status ist. Der soziale Status – bei Bourdieu repräsentiert durch Klassen – entspricht dem Umfang und der Struktur der verfügbaren Kapitalsorten: oekonomisches Kapital, kulturelles Kapital (Bildung) und soziales Kapital (Beziehungen). Die Sportpraxis ist aber nicht nur die Folge von Status und Habitus, sie setzt und betont selber auch soziale Unterschiede. Bourdieu bezeichnet diesen Mechanismus als Distinktion.
Den Klassenzusammenhang kann durch das Beispiel der reglementarischen und institutionellen Trennung von Fussball und Rugby in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts erweitert werden. Aus gemeinsamen Wurzeln hervorgegangen wurden beide Disziplinen in einem Rahmen betrieben, den Fabian Brändle und Christian Koller als „Orte elitärer Soziabilität“ bezeichnen. Diese Trennung brachte „Statusrivalitäten zwischen den einzelnen Schulen, namentlich zwischen dem reformerischen [bürgerlichen] Rugby und dem aristokratischen Eton“ zum Ausdruck, welche sich in verschiedenen Vorstellungen über den Einsatz der Hände beziehungsweise die Beschränkung auf ein reines kicking game ausdrückten. Es gibt also auch zwischen Fraktionen der „herrschenden Klasse“ Auseinandersetzungen über die legitime Ausübung eines Sports. Aristokraten und Bürgerliche stehen dabei in Opposition zueinander, in dem Sinne, dass kulturelles Kapital oekonomischem Kapital entgegengesetzt wird.
Der Sport im Dienste des Staates
Rein formal gesehen ist der Sport ein idealer Repräsentant gesellschaftlicher Unterschiede und Gegensätze. Christiane Eisenberg betont hierzu, es sei ein wesentliches Merkmal modernen Sports, dass „die rationale Form der Konkurrenz ‚leer‘ ist, d.h. beliebigen ‚Sinn‘ in sich aufnehmen und daher immer wieder reproduziert werden kann.“ Diese Leerstelle ist ein Produkt der Moderne: Im Rahmen eines sich allmählich vollziehenden Übergangs von volkstümlichen Spielen zum modernen Sport macht(e) sich die Elite „bestimmte körperliche Betätigungen, Bewegungsmuster im Rahmen traditioneller volkstümlicher Spiele zu eigen, schneidet sie in der Folge von den damit gekoppelten sozialen Anlässen (etwa Erntefesten) ab, und entleert sie so ihrer sozialen – und mehr noch: religiösen – Funktion, die jene rituellen Spiele in vorkapitalistischen Gesellschaften noch aufweisen.“ (Bourdieu) Die Leerstelle entstand folglich durch die Säkularisierung, wurde aber im Rahmen einer hierarchischen, erst in Teilen demokratisierten Gesellschaft von den herrschenden Klassen umgehend rationalisiert: der Sport wurde in den Dienst des grossen Projekts der Sozialisierung, der Integration breiter Bevölkerungsteile in die neu entstehende bürgerliche Gesellschaft gestellt. Als Stichworte sind hier etwa Disziplinierung, Affektkontrolle, Erhaltung der Arbeitsfähigkeit und Armeetauglichkeit sowie in Sportvereinen auch die Einübung demokratischer Verfahrensweisen zu nennen. Es wurde die grosse Zeit der Pädagogen: körperliche Ertüchtigung wurde durch Gymnastik und Turnen, disziplinierende und kooperative Eigenschaften wurden über Mannschaftssportarten vermittelt. Dabei wurden alle Formen der (Selbst-)Disziplinierung und Ertüchtigung zuerst von den gesellschaftlichen Eliten praktiziert, bevor diese breit zur Anwendung kamen.
Metapher für gesellschaftliche Mobilität
In den bisherigen Beispielen stand der Sport für Klassenunterschiede. Neben der historischen Plausibilität besitzt das Klassenmodell methodischen Wert durch seine analytische Trennschärfe: es liegen Welten zwischen dem Tennisspieler und dem Body-Builder bei Bourdieu (die ideologischen Implikationen sind bekannt). Nun ist eine Klassengesellschaft zwar weiterhin theoretisch isolierbar, aber aus empirischer Sicht nie in idealer Weise verwirklicht. Der Empirie entspricht eher die Vorstellung einer geschichteten Gesellschaft. Diese Schichtung lässt sich an zentralen ideologischen Vorstellungen der modernen westlichen Gesellschaften festmachen: Das bürgerliche Projekt „Demokratie“ macht traditionelle Herrschaftsverhältnisse durchlässiger. Für die Wirtschaft ist Wachstum konstitutiv und nur durch den Einbezug breiter Gruppen von Produzenten und Konsumenten zu erreichen. Die Wissenschaft schliesslich lebt entscheidend von Fortschritt und Innovation und braucht laufend neue ehrgeizige und kluge Köpfe. In ihrer Summe beschreiben Demokratisierung, Wachstum und Fortschritt eine Gesellschaft, die zentral von einer Mobilitätsvorstellung lebt. Anders gesagt muss bei den BürgerInnen die Überzeugung vorhanden sein, dass sie politischen Einfluss erlangen und Wohlstand erreichen können, und dass eine gute Ausbildung für sie erschwinglich ist, kurz: dass sozialer Aufstieg möglich ist. Mobilität führt zu einer Wahrnehmung von Schichten, bei der nun nicht mehr die Opposition Kapitalisten vs. Proletarier im Vordergrund steht, sondern die Ausweitung und Struktur der Mittelschichten. Für deren (Aufwärts-)Mobilität hat sich der Sport als hervorragende Metapher erwiesen. Eine Verbindung zwischen Mobilität und Sport besteht beispielsweise durch das Erfolgsverständnis. Ebenso wie Rekorde, persönliche Bestleistungen oder ein perfekt trainierter Körper den Erfolg sportlicher Anstrengungen bestätigen, wird durch eine höhere Ausbildung oder beruflichem Weiterkommen „sozialer“ Erfolg signalisiert. Die Schweiz mit ihrer gesellschaftlichen „Zwiebel“-Struktur, also eine eigentliche Mittelstandsgesellschaft, bestätigt diesen Vergleich. So stellen Lamprecht und Stamm in „Sport Schweiz 2000“ fest, dass die SchweizerInnen im internationalen Vergleich überdurchschnittlich viel Sport treiben. Was die Funktionalität der Mobilitäts-Metapher empirisch weiter absichert, ist der von den Autoren nachgewiesene positive Zusammenhang zwischen dem Ausmass der Sportaktivität und den sozialen Kriterien Bildung und Einkommen. In der hohen Sportaktivität der SchweizerInnen drückt sich letztlich eine hohe Integration bezüglich der ideologischen Vorgaben des Gesellschaftssystems aus. Die entsprechenden sozialisatorischen Vorleistungen werden im Rahmen des obligatorischen Schulturnens erbracht. Aber es zeigen sich im Sport auch gewisse Grenzen der Mobilität. So können sich heute fast alle Golf oder Tennis leisten. Aber nicht alle können sich auch einen teuren Privaklub leisten. Und wer sich den teuren Privatklub leisten kann, stösst möglicherweise auf Widerstände wie die Pop-Diva Mariah Carey: Die Regenbogen-Presse berichtete darüber, wie Carey Mitglied eines exklusiven Golfclubs geworden war und dort in Minirock und High-Heels auf dem green erschien, worauf sie von der empörten Klubaufsicht weggewiesen wurde.
Die Konsumkultur nimmt Einzug
Seit einigen Jahren werden sowohl der Spitzensport als auch der Breitensport umfassend kommerzialisiert. Sportarten, die von diesem Prozess nicht berührt werden, dürfen als marginalisiert gelten. Der Sport wird marktfähig gemacht, was für die SportlerInnen bedeutet, dass sie es nun mit einem Konsumgut zu tun haben. Wie alle Konsumbereiche unterliegt auch der Sport damit den Mechanismen der Mode. Mode macht an sich nur in einer geschichteten Gesellschaft Sinn, und dementsprechend war sie etwa in Thorstein Veblens Konzept der „conspicuous consumption“ ein wichtiges Mittel der Distinktion der „feinen Leute“, der ökonomisch Erfolgreichen. Aber der Bedeutungsgehalt von Mode hat sich verändert, und Tim Edwards bezeichnet die sich heute in rascher Folge ablösenden Lifestyle-Kulturen als Ergebnisse einer „production of an economy of signs“. In den Zeichen der Modetrends sieht er nur noch „reine Differenz“ enthalten: Distinktion bezieht sich nicht mehr auf Klassen- oder Schichtzugehörigkeiten sondern auf blosse Unterschiede in den ästhetischen Vorlieben – ein Novum auch für die Mode und ein soziologisch interessanter Vorgang, weil dadurch möglicherweise soziale Gegensätze und Konflikte von reinen Modeerscheinungen überlagert werden.
Die Vielfalt der durch die Kommerzialisierung geschaffenen Sportarten und Sportmotive sowie die damit verbundenen Codes und Trends ergeben in ihrem Zusammenspiel eine gewisse Unübersichtlichkeit. Es entsteht der Eindruck einer blossen Simulation von Mobilität, für die es möglicherweise nur noch begrenzt objektive Voraussetzungen gibt. Ein Indiz in diesem Zusammenhang ist etwa die Beobachtung von Lamprecht und Stamm, dass sich die Schweiz zunehmend spaltet: man treibt viel Sport oder ist abstinent. Die Abstinenten wären also gegenüber einer Mobilitätserwartung gleichgültig oder resigniert. Dagegen lassen sich MarathonläuferInnen und TriathlonsportlerInnen in ihrem Optimismus auch von Bourdieus Mobilitäts-Kritik nicht stoppen, wonach die vermeintlichen Aufsteiger „dazu präpariert sind, bereits im Akt der Anstrengung ihre Erfüllung zu finden und die ihnen für die gegenwärtigen Entbehrungen in der Zukunft verheissenen Befriedungen [Befriedigungen?] für bare Münze zu nehmen – eine solche Haltung ist gleichsam der Inbegriff ihrer gesamten Existenz.“ Aber auch ein Teil der SportlerInnen scheint die ausserhalb der eigenen Befindlichkeit liegende Ziele aufgegeben zu haben und beschränkt sich auf Konservierung: „Ja nicht altern!“ ist der Hintergrund des vielgenannten Sportmotivs „Gesundheit“. In die selbe Richtung weist die Beobachtung von Lamprecht und Stamm, dass der objektive „Leistungsvergleich“ (Wettbewerb) gegenüber einem subjektivierten „Leistungserlebnis“ abgewertet wird. Diese Subjektivierungen sind defensive soziale Strategien, die vom modischen Wandel leben, aber nicht zu sozialem Wandel führen.
Soweit der Versuch, das neue Phänomen der Kommerzialisierung einzuordnen. Möglicherweise ist diese im Sport ja nur eine Art wuchernder Überbau, der darunter liegende soziale Strukturen kaum berührt. Erste empirische Hinweise auf die Effekte der Kommerzialisierung des Sports ist Anlass zu meiner Forschungsarbeit. Die Überlegung ist folgende: durch die Kommerzialisierung sind alle SportlerInnen zu gewissen Sportausgaben gezwungen. Sportausgaben sind im Sinne Borudieus Investitionen in eine kulturelle Praxis, die nur dann Sinn machen, „wenn die Umkehrbarkeit der ursprünglichen Umwandlung von ökonomischem in kulturelles Kapital zumindest teilweise objektiv garantiert ist.“ Die prominenteste Anwendung dieses Mechanismus sind die Bildungsausgaben. Die Einkommens- und Verbrauchserhebung (EVE) des Bundesamtes für Statistik erfasst nun eine nicht vollständige, aber aussagekräftige Ausgaben-Liste: 16 Positionen von „Sportkleidern“ über „Andere dauerhafte Güter für Sport und Freizeit“ bis hin zu „Beiträgen an Sportclubs oder –vereine“. Diese Aufwendungen können auf eine Reihe soziologisch relevanter Merkmale bezogen werden. Grundsätzlich ist im Rahmen der genannten Konvertierbarkeit der verschiedenen Kapitalsorten zu erwarten, dass die Sportausgaben wie auch die Sportaktivitäten der SchweizerInnen in einem positiven Zusammenhang mit den Statusvariablen Einkommen und Bildung stehen.
Hans Ramseier, Jg. 1964, studiert im 9 Semester Soziologie auf dem zweiten Bildungsweg und hat sich bereits in den Nebenfächern Geschichte und Religionswissenschaften mit dem Thema Sport beschäftigt. Anlass für die Forschungsarbeit war der Besuch einer Veranstaltung bei Hanspeter Stamm zum Thema „Ursachen und Wirkungen des aktuellen Sportbooms“.
Literaturauswahl:
Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Frankfurt/M. 1987.
Brändle, Fabian / Koller, Christian: Goooal!!!. Zürich 2002.
Edwards, Tim: Contradictions of Consumption. Buckingham 2000.
Lamprecht, Markus / Stamm, Hanspeter: Sport Schweiz 2000. Basel, Bern, Zürich 2000.
Lamprecht, Markus / Stamm, Hanspeter: Sport zwischen Kultur, Kult und Kommerz. Zürich 2002.
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