Ein Streifzug durch die Geschichte eines gesellschaftskritischen Konzepts
Sinn- und Trostlosigkeit, Langeweile, Leere, Einsamkeit, zuweilen überdeckt durch inhaltsleere Happiness oder übertriebene Geschäftigkeit - Entfremdung ist ein grosses Thema in Film und Literatur, und sie war auch das Thema für die diesjährige Soziologie-Woche in Cortoi. Wie kaum ein anderer Begriff versucht derjenige der Entfremdung gesellschaftliches und subjektives Elend aufeinander zu beziehen, verkümmerte Existenzen und ihr Bewusstsein als Produkt ihrer sozialen Existenz zu begreifen. Der folgende Artikel unternimmt den Versuch, die wichtigsten Stationen der Begriffsbildung nachzuzeichnen.
SOZ-MAG Beitrag von Markus Brunner
Marx war der Erste, der den Entfremdungsbegriff als soziologische Kategorie fasste. In seinen frühen Auseinandersetzungen einerseits mit Hegel, andererseits mit den Ökonomen seiner Zeit, suchte er einen Begriff von entfremdeter Arbeit zu gewinnen. Der Mensch sei ein Mensch dadurch, dass er bewusst tätig sein kann. Er produziert nicht nur zur Befriedigung seiner unmittelbaren Lebensbedürfnisse, sondern eignet sich auch darüber hinaus in der praktischen und theoretischen Auseinandersetzung mit der Welt diese an. In seiner Auseinandersetzung mit der vorgefundenen Welt kann er sich entfalten und verwirklichen, neue (auch Denk-)Räume erschliessen, und schafft dabei selbst seine Umwelt, d.h. soziale Verhältnisse, und damit auch sich selbst, die Bedingungen, unter denen sich sein Charakter formt.
Unter der Herrschaft des Privateigentums (über Produktionsmittel, d.h. Arbeitsinstrumente, Technologien, Wissen etc.) aber, so Marx, entfremdet sich der produzierende Mensch, die ArbeiterIn, in seiner Lebenstätigkeit: Erstens wird dem Produzenten das Produkt seiner Arbeit, in das er einen Teil seiner selbst, seiner Fähigkeiten und seiner Lebenszeit gelegt hat, entzogen. Es gehört einem Anderen, dem Lohnzahlenden, bereichert diesen. Das Produzierte, ein Teil des produzierenden Menschen, tritt diesem selbst nach getaner Arbeit als fremder Gegenstand, als auf dem Markt käufliche Ware gegenüber. Entfremdung ist aber nicht nur Resultat der Produktion, sondern zeigt sich schon in der Tätigkeit selbst: Die in der Lohnarbeit ausgeübte Lebenstätigkeit ist Zwangsarbeit, nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses nach Verwirklichung oder Entfaltung, sondern „nur ein Mittel, um Bedürfnisse ausser ihr zu befriedigen“ (Marx 1944, S. 78). Die Arbeit ist dem Produzenten äusserlich, ihr Inhalt ihm gleichgültig, er und seine Arbeitskraft werden selber zur Ware, die auf dem Markt gegen Lohn verkauft wird. Weil die gemeinsam mit anderen Menschen arbeitsteilig geleistete gesellschaftliche Arbeit nur Mittel für das individuelle Leben ist, entfremdet die Lohnarbeit auch den Menschen von den anderen am gesellschaftlichen Arbeitsprozess beteiligten Menschen: Der unmittelbare Bezug zu anderen bleibt vermittelt über den Markt.
Wovon entfremdet sich der Mensch aber nach Marx? Von einem „unentfremdeten“ Naturzustand, von seiner „wahren Natur“? Von solchen Idealisierungen ist sein Denken frei: Der Mensch ist ein geschichtliches Wesen, dies macht ihn erst zum Menschen. Das Potential, das im Menschen steckt, die Möglichkeit einer universellen, freien Auseinandersetzung mit der Welt, die unter der Herrschaft des Privateigentums abgeblockt wird, ist selbst ein Produkt der Geschichte, sogar ein Produkt der entfremdeten Verhältnisse: Erst die bürgerliche Gesellschaft, in der Lohnarbeit und die Warenproduktion für den Markt zur Norm wurden, zerschlug die beschränkenden – aber auch Sinn stiftenden – traditionellen Banden der Menschen und setzte diese erstmals als einzelne Individuen in ein Verhältnis zu allen anderen Menschen, nicht nur zu denen der Gemeinschaft. Wenn das einzelne Individuum in vorkapitalistischen Verhältnissen zuweilen voller, ‚unentfremdeter’ erscheint, liegt dies daran, dass sich die Fülle seiner Beziehungen, die Fülle seiner Bedürfnisse und Potentiale noch nicht entwickelt hatten. Erst retrospektiv kann also von der Geschichte als einer der Entfremdung gesprochen werden.
Die Überwindung der Entfremdung kann mit Marx deshalb nicht eine Rückkehr zu vorkapitalistischen Verhältnissen bedeuten, sondern nur die „positive Aufhebung des Privateigentums“, eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Diese könnte eine vollständige Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften auf dem erreichten Stand der Produktivkräfte, der historisch hervorgebrachten Instrumente, des Wissens und der Fähigkeiten und Bedürfnisse, hervorbringen.
Verdinglichende Verhältnisse: Der Mensch als Maschine
Georg Lukács setzte mit seinem Begriff der Verdinglichung bei der von Marx in seinen späteren Werken geleisteten Warenanalyse an: In der modernen kapitalistischen Gesellschaft, deren gesamte Produktion nach dem Tauschprinzip funktioniert, erscheinen die über den Tausch vermittelten gesellschaftlichen Verhältnisse als Verhältnisse zwischen Dingen. Der gesellschaftliche Bezug aufeinander läuft über Waren; Arbeiterin und Unternehmer, Produzentin und Konsument treten über einen abstrakten Markt zueinander in Beziehung. Die Arbeit tritt den Menschen als etwas Objektives, sie Beherrschendes, gegenüber. Objektiv weil die Produkte der Arbeit und deren Beziehungen einer unkontrollierbaren Eigengesetzlichkeit folgen, aber auch subjektiv, weil auch die eigene Tätigkeit den Marktgesetzen unterworfen ist, Warencharakter besitzt. Diesem Charakter eigen ist die völlige Abstraktion von Qualitäten; über den Tauschwert werden alle und wird alles quantitativ miteinander vergleichbar: qualitativ verschiedene Tätigkeiten werden als formal gleich aufgefasst, nur noch über die Arbeitszeit erfassbar, und die Entlöhnung wird nach dieser abstrakten Zeit berechnet.
Diese im Tausch geleistete Abstraktion von Arbeit ist Teil und Ursprung des auf Kalkulierbarkeit ausgerichteten Rationalisierungsprozesses, den Max Weber in seinen Analysen des modernen Kapitalismus verzeichnet. Im Arbeitsprozess bedeutet dies eine immer stärkere Ausschaltung der qualitativen, menschlich-individuellen Eigenschaften der Arbeitenden durch Zerlegung des Arbeitsprozesses, Objektivierung des Arbeitspensums, sogar eine Objektivierung von für die Produktion nützlichen psychologischen Eigenschaften gegenüber der Gesamtpersönlichkeit. Das arbeitende Subjekt wird so zerrissen, seine menschlichen Eigenschaften und Besonderheiten – seine Phantasie, Spontaneität, seine Bedürfnisse und Sorgen – werden, sofern sie nicht als nützliche Fähigkeiten, als Dinge, die der Mensch ‚besitzt’, vermarktet werden können, zu blossen Fehlerquellen des Betriebs. Der Mensch muss sich so als Maschine in ein mechanisches System einfügen, das er unabhängig von ihm vorfindet; seine Gesamtpersönlichkeit ist dabei einflusslose Zuschauerin. Der Mensch wird in sich selbst fragmentiert und, da die rationelle Arbeitszerlegung die Banden der „organischen“ Gemeinschaftsproduktion zerreisst, auch gegenüber den anderen Menschen isoliert, ein Vereinzelter.
Wie Weber erkannte, zeigt sich derselbe, von der Entfaltung des Kapitalismus losgetretene Rationalisierungsschub auch in den Sphären des Rechts und des Staates. Soll der Warenaustausch kalkulierbar bleiben, muss dies ebenso für die Rechtssprechung und das Verwaltungswesen gelten: Auch diese Institutionen müssen nach einer formalen Logik strukturiert sein, damit Willkür verhindert werden kann. Dies bedeutet, dass Recht und Bürokratie von den konkreten, qualitativ verschiedenen Einzelfällen abstrahieren müssen, diese nur noch katalogisiert als Exemplare ihrer Gattung wahrgenommen werden können. Eine solche rein formelle, vom Inhalt abstrahierende Rechts- und Staatsordnung steht schliesslich als fixiertes, erstarrtes, unüberschaubares und undurchdringliches System, als mechanisierter Apparat den Einzelereignissen des gesellschaftlichen Lebens gegenüber. Von den Rechtsprechenden und Bürokraten wird, wie von den sonstigen Arbeiterinnen auch, eine Passivität und eine Abtrennung der Arbeitskraft von der Gesamtpersönlichkeit, ihre Reinigung von individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten gefordert: Die bürokratische „Gewissenhaftigkeit“ und Sachlichkeit und die bedingungslose Unterordnung unter das ganze System, ohne die der arbeitsteilige Prozess nicht funktionieren könnte, werden zu einem Wert an sich im Bewusstsein der „Paragraphenreiter“ und Bürokraten. Die damit ins „Ethische“ verlegte verdinglichte Bewusstseinsstruktur wird so zu einer Grundkategorie für die ganze Gesellschaft, formelle Vernunft, Abstraktion von eigenen und fremden Qualitäten, zum Paradigma des bürgerlichen Denkens.
(Re-)Produktion: Bedeutende Geschlechterverhältnisse
Für die ganze Gesellschaft? Eine einseitige Konzentration auf das öffentliche Leben, die politische-ökonomische Sphäre, an der sich die Durchrationalisierung der Gesellschaft und ihre sozialen und psychischen Folgen für die an ihr Partizipierenden so schön aufzeigen lässt, verfehlt eine Dimension: Die der Geschlechterverhältnisse. Die Produktionssphäre könnte ohne eine ihr entsprechende Sphäre, in der die benötigten Arbeitskräfte produziert und reproduziert werden, d.h. ohne den seit der Entstehung bürgerlicher Öffentlichkeit privaten Bereich der Familie und anderer Sozialisationsinstanzen, nicht bestehen. Wie Frigga Haug und andere feministische Theoretikerinnen betonen, bedingen die beiden Sphären, die Produktions- und die Reproduktionssphäre, sich gegenseitig, sind nicht ohne einander zu denken.
Diese Feststellung kämpft gegen eine in vielen marxistisch orientierten Gesellschaftsanalysen sich zeigende merkwürdige Idealisierung der weniger durchrationalisierbaren Reproduktionssphäre als vermeintlichen Hort unentfremdeten oder zumindest weniger entfremdeten Lebens. Die assoziative Gleichsetzung von Männlichkeit mit Kultur und Weiblichkeit mit Natur, ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft, reproduziert sich hier unreflektiert im kritischen Denken. Haug betont, dass auch das Geschlechterverhältnis als ein Produktionsverhältnis zu verstehen, die Trennung von Produktions- und Reproduktionssphäre selbst ein Produkt von Arbeitsteilung ist. In der bürgerlichen Familie haben die Männer die Verfügungsgewalt über die weibliche Arbeitskraft, Gebärfähigkeit und den sexuellen Körper der Frauen. Die nicht- oder nur teilarbeitstätige Frau steht als „‚natürliche‘ Existenzbedingung anderer“(Thürmer-Rohr) in einem (häufig unbezahlten) Arbeitsverhältnis, wobei sich ihre Lage sicherlich z.T. von derjenigen der am gesellschaftlichen Produktionsprozess Beteiligten unterscheidet: Während die Arbeit im politisch-ökonomischen Betrieb markt- und lohnvermittelt ist, zeigen sich im häuslichen Bereich persönlichere (Herrschafts-)Beziehungen. Während in der Öffentlichkeit der Einzelne im gemeinschaftlichen Arbeitsprozess durch die abstrakte Vermittlung vereinzelt, ist im Privaten der Bezug zum gesellschaftlichen Lebensprozess gänzlich abgeschnitten. Und während auf dem Markt die Entlöhnung über die Arbeitszeit eruiert wird, gibt es in der privaten Reproduktionsarbeit keine Arbeitszeitbeschränkungen. Damit wird nicht nur der Körper der Frau, sondern schon im Arbeitsprozess ihr ganzes Wesen zur Ware: Ein Abkoppeln von gesellschaftlich verwertbaren Eigenschaften von der Gesamtpersönlichkeit wird schwierig, womit die Zerstückelung ihrer Persönlichkeit, ihre Entfremdung, einen spezifischen Charakter annimmt.
Konsum und Freizeit: Durchrationalisierung und Diktat der Kulturindustrie
Der Rationalisierungsprozess ergreift aber nicht nur die Sphäre der Produktion und unmittelbaren Reproduktion, die öffentliche und private Arbeit und die politisch-rechtlichen Institutionen. Vielmehr breitet sich die Verdinglichung des Bewusstseins als Spiegelung der verdinglichten gesellschaftlichen Verhältnisse auf sämtliche Erscheinungsformen des Lebens aus: Auch die Gegenstände der Bedürfnisbefriedigung erscheinen den Menschen nur noch als Waren, die ihren Preis haben; der Warencharakter der Gebrauchsgegenstände erscheint dem Konsumenten als ihr innerstes Wesen.
Horkheimer und Adorno zeigen in ihrer Kulturindustrie-Analyse in der Dialektik der Aufklärung, wie die Durchrationalisierung der Gesellschaft den ganzen Bereich der Freizeit erfasst: Jegliche künstlerischen und kulturellen Aktivitäten werden unweigerlich vom industriellen Kulturbetrieb erfasst, der in einem rationell-arbeitsteiligen Prozess standardisierte Produkte produziert, die den Erholung Suchenden als Freizeitangebote überschwemmen. Die Menschen erfasst sie, vermittelt über den Markt, lediglich als Konsumenten mit Kauf- oder Angestellte mit Arbeitskraft. Auch sie folgt einer von Qualitäten abstrahierenden formellen Logik: Alles muss katalogisiert, eingeordnet werden, die Inhalte sind beliebig, solange sie gekauft werden, eine Logik, der sich kein Betrieb völlig entziehen kann, will er überleben. Was wirklich anders wäre, was die Konsumentin z.B. aus ihrer kontemplativen Haltung herauslocken würde, wird durch Einordnung und Schubladisierung entschärft oder erliegt dem ökonomischen Tod. Die psychischen Folgen der Entfremdung der Menschen werden in der Kulturindustrie reproduziert: Vorstellungskraft, Spontaneität, Denken, Sinn verkümmern, der verwaltete Einzelne wird zum Anhängsel des Apparats. Der vielbeklagte Verdummungsprozess durch die Medien ist aber nicht bloss diesen anzulasten: Zementiert werden von der Kulturindustrie nur die Charakterdispositionen, welche die allgemeine Industrie schon hervorbrachte. Die Entschuldigung der Industrie, dass die entfremdeten Konsumentinnen nichts anderes fordern, als ihnen vorgesetzt wird, ist nicht bloss Ideologie: Schon Marx hatte in seiner Analyse der Lohnarbeit die Verkümmerung der erst im historischen Prozess entfalteten Sinne auf den einen „Sinn des Habens“ konstatiert. Adorno und Horkheimer lasten dem Kulturbetrieb denn auch v.a. eines an: Er sei nicht einmal ein Fluchtort vor der schlechten Realität, sondern nur der Fluchtort „vor dem letzten Gedanken an Widerstand, den jene noch übriggelassen hat (Horkheimer/Adorno 1944, S. 153).
Die verwaltete Welt, die „eindimensionale Gesellschaft“, so Marcuse, lasse nicht einmal mehr das Mass an innerer Freiheit, an eigenständiger Subjektivität ausbilden, das zur Entfremdungserfahrung überhaupt nötig wäre. Erstarrt im „glücklichen Bewusstsein“, gleiche sich die Erfahrungswelt der Menschen – so Adorno/Horkheimer – tendenziell wieder jener „der Lurche“ an (Horkheimer/Adorno 1944, S. 43). So gesehen mag das Gefühl eines Unbehagens an der Gesellschaft noch Hoffnung erwecken…
Dialektik der Aufklärung: Der Mensch als Sklave der Rationalität
Der Kontext der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno geht jedoch über Marx hinaus, radikalisiert seine Kritik, nimmt ihr zuweilen jedoch auch ihre historische Sprengkraft: Den Ursprung des von Marx und Weber konstatierten Rationalisierungsprozesses sehen sie am Urgrund der Menschwerdung. Das Entstehen des Subjekts in der Trennung von menschlichem Geist und Natur bezahlt dieses Subjekt mit der Entfremdung von dem, worüber es Macht ausübt: Die Angst des Menschen vor der Übermacht der Natur führt zur praktischen und begrifflichen Unterwerfung der Natur, zur Herrschaft über diese. Die Welt darf nur da wahrgenommen werden, wo sie vom menschlichen Geist manipulierbar ist, wo sie beherrscht werden kann, weil die blosse Vorstellung eines Unbekannten, nicht Begreifbaren, die eigentliche Quelle der Angst darstellt. Natur wird zum blossen unstrukturierten chaotischen Stoff degradiert, zu etwas Qualitäts- und Sinnlosem, in das der Mensch Ordnung und Sinn legen kann. Erkenntnis, die den Gegenstand wirklich träfe, die nur durch sinnliche Erfahrung, durch Einfühlung, Sich-dem-Gegenstand-Gleichmachen, zu leisten wäre, wird als mythisch tabuisiert. Dieses mimetische Moment der Erfahrung, dieses nachahmende Einfühlen, das sich noch in den hilflosen Götteranbetungen der animistischen Zauberer zeigt, wird im Rationalisierungs-Prozess immer mehr ausgemerzt. Die Trennung von Intellekt und sinnlicher Erfahrung, schliesslich deren Ersetzung durch objektivierbare Empirietechniken, lässt Denken und Sinnlichkeit gleichermassen verkümmern: Ersteres wird nur noch zum Apparat der Herrschaft, Letztere ihrer Erkenntniskraft beraubt.
Weil der Mensch immer auch Naturwesen ist, schlägt die Naturbeherrschung um in die Beherrschung über andere Menschen und über sich selbst. Den Herren sind die Sklaven, durch die sie überhaupt die Distanz zum Objekt wahren können, blosse Tiere, die es genauso zu beherrschen gilt wie die eigenen Triebbedürfnisse auch. Herrschaft wird zum Prinzip aller Beziehungen. Massstab des Fortschritts ist die Erhaltung des Selbst, das aber durch den Prozess, durch den es entstand, selber wieder eliminiert wird: Es soll immer mehr von aller Natur, von allem Unberechenbaren gereinigt werden und sich unter das Primat der Beherrschbarkeit und der Nützlichkeit stellen. Es entbehrt schliesslich jeglicher individueller Qualitäten, wird zum Knotenpunkt vorgegebener Reaktionsweisen.
Das Denken – wie dessen Subjekte – wird von allem, was als mythisch gilt, weil es auf Qualitäten zielt, von animistischem Götterglauben über religiöse Sinnsuche bis schliesslich zu den philosophischen Begriffen selbst, gesäubert. Schliesslich unterwirft es sich vollends der Rationalisierungslogik. Damit schafft sich das Subjekt jedoch selber ab: Vernunft, das Mittel seiner Emanzipation von der Natur, beseitigt sich selbst, regrediert zur blossen inhaltsleeren, formellen Technik, zum System. Gefangen im „stahlharten Gehäuse“ (Weber) der Rationalität, gleicht sich der Mensch wieder dem Naturzustand an, hilflos beherrscht von zweiter Natur, d.h. den historisch entstandenen durchrationalisierten Verhältnissen.
Was wirklich anders wäre, Neues, Unbekanntes, was mit dem Bestehenden und seinen Ordnungsschemata nicht identisch wäre, kann nicht mehr wahrgenommen und erkannt werden. Doch gerade die Erkenntnis der eigenen totalen Verknechtung unter die Dingwelt würde den Menschen das Wesen des Zwangs offenbaren: Es ist das Prinzip der Herrschaft überhaupt. Der Herrschaft gewahr zu sein und ihr zu entraten, vermöchte die verheerende Dynamik zu sprengen.
Markus Brunner ( Diese E-Mail-Adresse ist gegen Spambots geschützt, Du musst JavaScript aktivieren, damit Du sie sehen kannst. ), 26, absolvierte sein Soziologie-Grundstudium in Zürich und studiert jetzt seit 4 Jahren an der Uni Hannover die Magisterfächer Sozialpsychologie und Soziologie.
Literaturauswahl:
Marx, K. (1844): Ökonomisch-philosophische Manuskripte. In: Marx-Engels-Studienausgabe, Band 2 [StA II]. Frankfurt a.M. 1990. S. 38-128.
Lukacs, G. (1923): Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats. In: Ders.: Geschichte und Klassenbewusstsein. Neuwied/Berlin 1968.
Haug, F. (2003): Stichwort ‚Geschlechterverhältnisse’. In: Historisch-kritisches Wörterbuch des Feminismus, Band 1. Hamburg.
Thürmer-Rohr, Ch. (1989): Mittäterschaft und Entdeckungslust. In: Studienschwerpunkt „Frauenforschung“ am Institut für Sozialpädagogik der TU Berlin (Hg.): Mittäterschaft und Entdeckungslust. Berlin, S. 138-154.
Horkheimer, M. und Adorno, T.W. (1944): Dialektik der Aufklärung [DdA]. Frankfurt a.M. 1969.
Marcuse, H. (1964): Der eindimensionale Mensch. Darmstadt/Neuwied 1967.
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