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soziologie.ch soz:mag#8 und vor der haustür liegt das stadtviertel... oder?

und vor der haustür liegt das stadtviertel... oder?

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Die Bedeutung von Raum und Quartier im Zeitalter von Globalisierung, Internet und Hochgeschwindigkeitszügen

In den mit der Stadt befassten Disziplinen - Stadtplanung, Stadtverwaltung, Sozialarbeit, Stadtgeographie und Stadtsoziologie - wird quasi selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Menschen in Stadtquartieren leben. Aber stimmt das denn heute, wo räumliche Distanzen aufgrund der neuen Transport- und Kommunikationsmittel immer mehr an Bedeutung verlieren, überhaupt noch? Ein soziologischer Raumbegriff stellt Raum als eine Verknüpfung von geographisch möglicherweise weit auseinander liegenden Orten durch das Individuum dar.

SOZ-MAG Beitrag von Katharina Manderscheid

In traditionellen Gesellschaften ist die gleichzeitige Präsenz von Menschen an einem Ort die notwendige Voraussetzung für Interaktion zwischen Menschen und damit für Prozesse von Gemeinschaftsbildung. Aufgrund der beschränkten Fortbewegungsmöglichkeiten sind dem individuellen Interaktionsraum enge Grenzen gesteckt.

An diese Beobachtungen knüpften auch die StadtforscherInnen der Chicagoer Schule zu Beginn des 20. Jahrhunderts an, die die Prozesse der Zuwanderung und des Stadtwachstums in Chicago untersuchten, und deren Studien die internationale Stadtsoziologie prägten. Im Vergleich zum Leben auf dem Land in dörflichen, dicht integrierten Gemeinschaften enthält das städtische Leben eine historisch neue Qualität: Auf engem Territorium leben eine grosse Anzahl von Menschen, die sich gegenseitig nicht kennen. Im Zuge der Industrialisierung und der damit einhergehenden schnell voranschreitenden Urbanisierung erlangte diese dichte Konzentration von Fremden zentrale Bedeutung für die gesellschaftliche Organisation. Entsprechend groß war auch die – häufig sorgenvolle – Beachtung, welche die sozialwissenschaftlichen Forschungen und Theoriebildungen den Städten schenkten. Mit anderen entwickelte Robert E. Park, ein prominenter Vertreter der Chicago School of Sociology, das Theorem der ”natural areas”. Mit ”natural areas” sind räumlich abgrenzbare soziale Gebilde gemeint, die durch eigene Normen, Traditionen und Verhaltensmuster geprägt sind. Die Integration des Einzelnen in diese Gemeinschaften verhindere, so die Folgerung, moralischen Verfall und Chaos in der Großstadt (Park 1974). Diese Perspektive begreift Stadt also als ein Mosaik sozial integrierter Dörfer.

Das Denken, das diesen frühen Stadtforschungen zugrunde liegt, nämlich dass das gemeinsame Leben in einem Stadtquartier zu Gemeinschaftsbildung führt, dass also von ”sozial-räumlichen Einheiten” gesprochen werden kann, prägt die mit der Stadt befassten Disziplinen und auch die alltäglichen Vorstellungen bis heute. Es zeigt sich beispielsweise in den Diskussionen um die räumliche Konzentration ethnischer Gruppen oder sozial Schwacher in gewissen Quartieren der Städte – der so genannten residentiellen Segregation oder ”Ghettobildung”. Es wird angenommen, dass so ”Parallelgesellschaften” (u.a. Heitmeyer 1998) entstehen, in denen sich Verhaltensweisen verfestigen, die im Widerspruch zur ”Mainstream-Gesellschaft” stünden. Dabei werden beide Richtungen als möglich erachtet: die Entstehung von sozial dicht integrierten nicht-westlich-orientierten Gemeinschaften, die sich v.a. an religiösen und ethischen Vorstellungen ihrer Herkunftsgesellschaften orientieren, oder aber die Ausbreitung illegaler Verhaltensmuster innerhalb der betreffenden Gebiete. Diese theoretische Annahme scheint im Alltag bestätigt zu werden durch die Wahrnehmung höherer Kriminalität, abweichenden Verhaltens und der Pflege ethnischer Netzwerke in den betreffenden Stadtteilen. Entsprechend setzen viele sozialpolitische und planerische Gegenmaßnahmen an dieser räumlichen Konzentration von sozialen Gruppen an und sehen eine soziale Durchmischung der Bevölkerung als Problemlösung. Teilweise werden auch Luxussanierungen und der Bau teurer Wohneinheiten in so genannten benachteiligten Quartieren sozialpolitisch mit diesen Argumenten gerechtfertigt.

Aber ist die hinter diesen Gegenmassnahmen stehende Annahme von sozial-räumlichen Einheiten überhaupt noch angemessen? Um diese Frage zu beantworten, gehe ich auf einige Ergebnisse meiner Untersuchung eines Stadtquartiers in Tübingen ein.

Die Rolle des Quartiers heute – eine Untersuchung in Tübingen

In der süddeutschen Universitätsstadt Tübingen wurde Anfang der 1990er Jahre ein neues Quartier gebaut. Mittels verschiedener städtebaulicher Instrumente sollten breite Schichten der Bevölkerung angezogen werden. Der maßgebliche Initiator des Projektes und Autor des Buches ‚Die zweckentfremdete Stadt‘ (Feldtkeller 1994) sieht die Aufgabe der Stadt darin, ”ein faires Miteinander zu ermöglichen”. Durch ein hohes Maß an Einbindung der zukünftigen BewohnerInnen in die Planung des Quartiers, durch die Schaffung von öffentlichen Räumen und der Mischung von Nutzung – in jedem Gebäude ist das Erdgeschoss gewerblichen Betrieben (Praxen, Läden, Büros, Gaststätten, Kulturbetrieben) vorbehalten – sollen sich ungezwungene, beiläufige Begegnungen zwischen verschiedenen Menschen ergeben. Darauf aufbauend soll sich eine friedliche Toleranz und die gemeinsame Verantwortungsübernahme für den eigenen Stadtteil entwickeln. Vor allem auch dadurch, dass Kinder auf den verkehrsberuhigten Strassen spielen können und viele alltägliche Erledigungen im eigenen Quartier möglich sind, soll die Gemeinschaft und die Bindung an diesen Ort gestärkt werden.

Bei meiner Untersuchung in diesem Stadtteil Tübingens interessierte ich mich (unter anderem) dafür, welche Bedeutung das Wohnquartier für verschiedene Bewohner hat. Zu diesem Zweck wurden zunächst ExpertInneninterviews durchgeführt, also qualitative, relativ offene Interviews mit Personen, die aufgrund ihrer Tätigkeit einen guten Einblick in das Quartier haben, um so den Forschungsgegenstand, das Quartier, besser kennen zu lernen. Auf der Basis der so gewonnen Informationen wurde ein standardisierter Fragebogen entwickelt, der an alle Haushalte dieses neuen Stadtteils verteilt wurde. Darin wurde beispielsweise gefragt, wo FreundInnen, Bekannte und Verwandte leben, an welchen Orten Tätigkeiten wie Einkaufen, Arztbesuche und Bummeln verrichtet werden und inwieweit sich die Befragten an verschiedenen Initiativen und Quartiersgruppen beteiligen.

Es zeigte sich, dass befragte Haushalte, in denen Kinder leben, offenbar sehr viel ”quartierbezogener” leben als kinderlose, d.h. es werden sehr viel mehr Tätigkeitsbereiche in unmittelbarer Umgebung der Wohnung abgedeckt. Im Gegensatz dazu orientieren sich kinderlos lebende Befragte tendenziell stärker auf die Innenstadt Tübingens; das Wohnquartier hat für sie eine sehr viel geringere Bedeutung. Ein ähnliches Muster zeigt sich bezüglich der Nachbarschaftskontakte: Haushaltsformen, in denen Kinder leben, sind offenbar stärker in nachbarschaftliche Netzwerke integriert als kinderlos Lebende. Und auch beim quartiersbezogenen Engagement, also der direkten Beteiligung am Quartiersleben und der Entwicklung erweisen sich Haushalte mit Kindern als aktiver. Damit lässt sich für das Tübinger Untersuchungsgebiet eine stärkere Wohnquartiersbindung bei Familienhaushalten feststellen, die darüber hinaus häufig durch den Besitz der Wohnung verstärkt wird. Kinderlos lebende Haushalte sind offenbar stadträumlich ungebundener und ihr Aktionsradius ist tendenziell größer. Aber auch andere Faktoren – wie etwa Alter, Bildung und verfügbare Ressourcen – spielen für den Grad der Bindung an das Quartier eine Rolle. Wenn die infrastrukturelle Ausstattung eines Quartiers schlecht ist, dann ist insgesamt der Grad der Quartiersgebundenheit tendenziell niedriger.

Ein soziologisches Raumverständnis

Die Ausführungen machen deutlich, dass das Wohnquartier nicht für alle sozialen Schichten und alle Lebensstile dieselbe Relevanz hat. Schon gar nicht kann davon ausgegangen werden, dass der Alltag der StädterInnen ausschließlich oder überwiegend in ihrem Quartier stattfindet. Schon Kinder lernen im Allgemeinen, verschiedene Orte über die Stadt verteilt zu verschiedenen Zwecken aufzusuchen und erwerben damit früh die Fähigkeit, sich in der Stadt zu bewegen und verschiedene Orte zu verknüpfen (u.a. Zeiher 1990).

Diese ”Verinselung” und ”Zerstückelung” des Raumes im Leben von Kindern und Erwachsenen wird sowohl in der öffentlichen als auch in der fachlichen Diskussion vielfach beklagt als Verlust, als mangelnde Einbindung. Dabei wird jedoch übersehen, dass die modernen mobilen Individuen nicht zwangsläufig raum-, ort- oder bindungslos sind. Der Zusammenhang von sozialen Interaktionen und Raum hat sich einfach in großem Maßstab verschoben: Unter den Bedingungen gestiegener individueller Mobilität, wachsender globaler Vernetzung und neuer Informations- und Kommunikationstechnologien hängt die Bedeutung des Ortes einer Stadt oder auch eines Quartiers für die Integration des Individuums von dessen Fähigkeit ab, verschiedene Orte miteinander zu verknüpfen und zu ”Räumen” zu konstituieren. Diese Räume sind, da geographische Entfernungen aufgrund von Verkehrsmitteln und Kommunikationstechnologien an Bedeutung verlieren, zunehmend weniger an traditionelle Raum-Einheiten wie Stadtquartiere, Städte, Kantone oder Länder gebunden. Dieser Verschiebung des Zusammenhangs von sozialer Vergemeinschaftung und Raum trägt die jüngste soziologische Diskussion durch eine Neukonzeptualisierung des Raumbegriffes Rechnung. Räumliche Erfahrungen und Wahrnehmungen stellen sich, je nach individuellem, sozialem, kulturellem, demographischem oder geographischem Hintergrund in unterschiedlicher Weise dar, d.h. es werden jeweils verschiedene Orte miteinander verknüpft und zu individuell sinnvollen Räumen verbunden. Gemäss der Darmstädter Professorin Martina Löw, die diese soziologische Debatte mit ihrem Buch ‚Raumsoziologie‘ (Löw 2001) massgeblich akzentuiert hat, entstehen Räume also dadurch, ”dass sie aktiv durch Menschen verknüpft werden. Dabei verknüpfen Menschen nicht nur Dinge, sondern auch (selbst aktiv in das Geschehen eingreifende) andere Menschen oder Menschengruppen (Löw 2001: 158)“.

Neue Impulse für die städtische Entwicklung

Offenbar hat sich das Verhältnis von sozialen Interaktionen und territorialem Raum verschoben. Die notwendige Voraussetzung, um Kontakte herzustellen und aufrecht zu erhalten, ist nicht mehr die gleichzeitige Anwesenheit an einem Ort. Angesichts der größeren Verfügbarkeit von immer schneller werdenden Verkehrsmitteln und der gesteigerten Individualmobilität, der Verbreitung von Informations- und Kommunikationsmedien und der zunehmenden globalen Vernetzung muss dieses Verhältnis neu gedacht werden. In der Soziologie wird diesen Anforderungen durch ein neues, handlungs- bzw. akteurszentriertes Raumverständnis Rechnung getragen, das Raum als Verknüpfung von Orten begreift.

Für die sich mit städtischen Entwicklungen beschäftigenden Disziplinen ergibt sich aus diesen empirischen Beobachtungen und theoretischen Überlegungen die Notwendigkeit, über das Quartier neu nachzudenken. Es kann, wie mein Forschungsprojekt unter anderem gezeigt hat, eben nicht davon ausgegangen werden, dass sich die BewohnerInnen eines Stadtteils in diesem auch zeitlich besonders lange aufhalten, in ihm ihren Alltag verbringen. Gerade für mobile Bevölkerungsgruppen spielt das die Wohnung umgegebende Quartier häufig eine sehr marginale Rolle. Die Orte, die sie zu ihren Räumen verknüpfen, können über die Stadt oder auch darüber hinaus verteilt sein. Auf der anderen Seite gibt es aber immer noch einen nicht zu vergessenden Anteil an weniger mobilen Bevölkerungsgruppen. Zum Beispiel Familien, bzw. genauer: vor allem die für die Kinderbetreuung und die Haushaltsführung zuständigen Frauen (und die empirisch fast nicht existenten Männer) sind sehr viel stärker auf ihre Wohnumgebung angewiesen, da sie im Lauf ihres Alltags mehrere Orte miteinander verknüpfen müssen: Kindergarten, Geschäfte, Schule, Spielplatz etc. Auch alte Menschen sind häufig nicht mehr in der Lage, größere räumliche Entfernungen zu überwinden, vor allem, wenn ihnen die finanziellen Ressourcen fehlen. Darüber hinaus ist die Fähigkeit, ausgedehnte Räume über die Verknüpfung von Orten herzustellen und aufrecht zu erhalten, auch von sozialen und kulturellen Faktoren abhängig.

Entsprechend ist auch die Frage nach residentieller Segregation und sozialer Mischung neu zu stellen. Die sozialen Probleme, die beispielsweise manche Quartiere aufweisen, die über einen hohen Anteil von Zuwanderinnen und Zuwanderern verfügen, sind eben nicht ursächlich dieser räumlichen Konzentration geschuldet, sie werden durch diese nur besonders sichtbar. Die Probleme dieser Stadtteile liegen vielmehr in der Kulmination verschiedener Faktoren: schlechter Wohnbedingungen, schlechter Arbeitsmarktintegration, mangelnder Bildung, schlechter finanzieller Ressourcen – entstanden auf der Ebene von Sozial- und Bildungspolitik sowie der Logik des Wirtschaftssystems.

Katharina Manderscheid forscht und lehrt am Institut für Soziologie der Universität Basel. In ihrer Dissertation (Manderscheid 2004) setzte sie sich mit der soziologischen Raumdiskussion auseinander, vor deren Hintergrund sie den städtebaulichen Entwicklungsbereich in Tübingen/Deutschland empirisch untersuchte.

Literaturauswahl:

Dürrschmidt, J. (1997): The delinking of locale and milieu. On the situatedness of extended milieux in a global environment, in: Eade, John (Hrsg.): Living the Global City. Globalization as a local process, London; New York: 56-72.
Heitmeyer, W. (1998): Versagt die ‚Integrationsmaschine‘ Stadt? Zum Problem der ethnisch-kulturellen Segregation und ihrer Konfliktfolgen, in: Ders. et al. (Hrsg.): Die Krise der Städte. Analysen zu den Folgen desintegrativer Stadtentwicklung für das ethnisch-kulturelle Zusammenleben, Frankfurt/M.: 443-467.
Feldtkeller, A. (1994): Die zweckentfremdete Stadt. Wider die Zerstörung des öffentlichen Raums. Frankfurt/M., New York.
Feldtkeller, A. (1997): Tübingen: Neue Wege der Planung und der Bürgeraktivität beim Städtebau, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B17: 38-46.
Löw, M. (2001): Raumsoziologie, Frankfurt/M.
Manderscheid, K. (2004): Milieu, Urbanität und Raum. Soziale Prägung und Wirksamkeit städtebaulicher Leitbilder und gebauter Räume, Wiesbaden.
Park, R.-E. (1974): Die Stadt als räumliche Struktur und als sittliche Ordnung, in: Atteslander, Peter/Hamm, Bernd (Hrsg.): Materialien zur Siedlungssoziologie, Köln: 90-100.
Zeiher, H. (1990): Organisation des Lebensraums bei Großstadtkindern - Einheitlichkeit oder Verinselung? in: Bertels, Lothar; Herlyn, Ulfert (Hrsg.): Lebenslauf und Raumerfahrung, Opladen: 35-57.

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«Ich habe natürlich nie völlig unrecht.»

Michel Foucault (2006): Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Suhrkamp, S. 78.